Rezension zu Bindung und Autonomie in der frühen Kindheit (PDF-E-Book)
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Rezension von Ulrike Ziemer
Thema
Ursula Henzinger setzt sich in Ihrem Buch und in ihren Forschungen
mit dem Wesen der frühen Mutter – Kind Interaktionen
auseinander.
Aufbau
Die Autorin teilt das vorliegende Fachbuch in zwei thematische
Teile.
1. Im ersten Teil betrachtet sie das »Eltern-Kind-Verhalten« aus
der evolutionären Perspektive.
2. Der zweite Teil beschreibt ihre Forschungen und Erkenntnisse
orientiert an altersspezifischen Merkmalen des spontanen kindlichen
Sozialverhaltens.
Die humanethologische Forschungsarbeit der Autorin zu dem spontanen
Näh-Distanz-Verhalten in unserer Kultur, ist das Fundament des
vorliegenden Werkes.
Zu Teil 1
Teil 1 betrachtet das Eltern-Kind -Verhalten aus evolutionärer
Perspektive. Es werden zunächst die Forschungsmethoden der
Humanethologie vorgestellt:
1. Beobachten,
2. Dokumentieren und
3. Beschreiben.
Es wird zwischen teilnehmender Beobachtung und objektiver
Beobachtung unterschieden.
Anschließend werden drei verschiede Vergleichsmöglichkeiten
beleuchtet:
1. Tier- Mensch Vergleich
2. Kulturen Vergleich
3. Vergleich von Literatur und Forschung
Anhand vieler Beispiele erläutert Frau Henzinger die
Grundstrukturen wissenschaftlichen Arbeitens. Vorbehaltlose
Beobachtung und wertfreie Beschreibung von Verhaltensmustern
benötigen Ungestörtheit und Zeit.
Die Natur und Kultur der Eltern-Kind-Beziehung wird evolutionär und
kulturgeschichtlich betrachtet. Mit Hilfe von Übersichtstafeln wird
die Kulturgeschichte der Geburt, des Schlafens und des Stillens
beginnend in der Zeit der Jäger-Sammler Völker (Altsteinzeit, ca.
2,6 Millionen Jahre) bis in unsere heutige Zeit dargestellt. Die
Fürsorge der Eltern für ihre Kinder ist in den menschlichen
Verhaltensmöglichkeiten verwurzelt. So ist es zum Beispiel sehr
aufschlussreich, dass der Säugling in der Altsteinzeit tagsüber am
Körper der Eltern und nachts mit ihnen am selben Schlafplatz
geschlafen hat. Heute hingegen findet man häufig isoliertes und
technisch überwachtes Schlafen.
Zu Teil 2
Teil 2 des Buches setzt sich mit dem frühkindlichen
Interaktionsverhalten auseinander.
Die Bindungstheorie und ihre Erweiterung durch das Züricher Modell
von Bischof werden ausführlich erläutert. Die Ergebnisse der
Feldforschung von Frau Henzinger, zum spontanen Sozialverhalten
werden mit dem Fokus auf die Nähe-Distanz-Regulierung
altersabgestuft (ab Geburt, ab spätestens sechs bis neun Monaten,
ab zwei Jahren, ab frühestens vier Jahren) dargestellt. Die
Kenntnisse über die Entwicklungen und die Muster der
Nähe-Distanz-Regulation helfen Fachleuten in der Praxis und geben
Grundlagen für gezielte Unterstützungsmöglichkeiten.
Es folgt das Kapitel »Einüben von wohltuendem Verhalten«. Ein
Säugling benötigt für sein Wohlbefinden von Anfang an ein aktives
Umfeld, das ihm hilft sich als soziales Wesen weiterzuentwickeln.
Körperkontakt und der Dialog mit Menschen, sowie dessen
verlässliche Reaktionen geben dem Säugling Sicherheit und
Geborgenheit, die er dringend für seine Weiterentwicklung
benötigt.
Die Abschnitte Lernen durch Spiel und Lernen durch Herausforderung
schließen die Ausführungen ab.
Diskussion
Die Autorin deckt mit ihrem wissenschaftlichen Werk ein breites
Forschungsspektrum ab. Die Kernaussagen sind sehr gut verständlich
und nachvollziehbar dargestellt. Die vielen Beispiele machen die
Überlegungen und Erkenntnisse auch für Fachleute, die sich nicht
überwiegend mit Säuglingen und Kleinkindern beschäftigen und für
interessierte Eltern nachvollziehbar.
Es ist zu spüren, dass es eine Herzensangelegenheit von Frau
Henzinger ist, Beziehungen und deren Entwicklung zu verstehen und
zu unterstützen. Ihr Ansatz ist ein wissenschaftlicher. Gründlich
recherchiert sie die Verhaltensweisen und beobachtet geduldig. Sie
wertet nicht und gibt keine starren Handlungsanweisungen. Vieles
erschließt sich dem Leser beim Betrachten der Beispiele.
Frau Henzinger verfügt über unendlich viel Praxiserfahrung und hat
vier eigene Kinder. Sie stellt in ihren Verhaltensforschungen immer
wieder die »Kraft der Mütterlichkeit« in den Mittelpunkt und zwar
nicht als überholtes politisches Modell, sondern als die
ursprüngliche Fähigkeit des einfachen Da-Seins. Gerade durch diesen
Achtsamen Umgang mit dem Kind wird dessen Eigensinn und Autonomie
»beflügelt«. In allen Ausführungen ist zu spüren, dass die Autorin
erlebt hat, was sie beschreibt. Es ist faszinierend zu lesen, wie
kompetent und autonom Säuglinge sind und das die Bedingungen, die
sie für ein gesundes Aufwachsen benötigen, evolutionärer begründbar
sind.
Das Buch ist kein Elternratgeber, der sagt »tue dies oder tue das«.
Es ist eine sachliche und mit Beispielen begründete Darlegung von
Verhaltensmustern und Entwicklungsverläufen. Die Möglichkeiten der
förderlichen Entwicklungsbegleitung sind großartig und naheliegend.
Die Möglichkeit kindliche Autonomie durch zurückhaltende, aber
präsente Beobachtung zu fördern, erscheint erstaunlich einfach.
Dennoch ist es eine Aufgabe die höchste Aufmerksamkeit und
Konzentration erfordert. Nahe beim Kind sein und es doch »frei«
lassen. Rückhalt anbieten aber nicht eingreifen. Eine Möglichkeit
die Ursula Henzinger in vielen Babygruppen ausprobiert und
erforscht hat. Ein sehr besonderes Buch, das Wissenschaft zum
Anfassen und Anwenden anbietet.
Das über 400 Seiten umfassende Buch ist hilfreich untergliedert, im
Anhang findet sich ein umfangreiches Glossar, sowie ein Sach- und
Personenregister. Es gibt abschnittsweise übersichtliche
Zusammenfassungen die farblich hervorgehoben werden. Herrscht bei
einigen Ausführungen Unsicherheit, wie alles zusammengehört, wird
dies spätestens bei der jeweiligen Zusammenschau aufgelöst.
Fazit
Das vorliegende Fachbuch, Bindung und Autonomie in der frühen
Kindheit, zeigt humanethologische Perspektiven auf, die unter
anderem für die klinische und beratende Arbeit mit Familien nutzbar
sind. Es werden das Eltern-Kind-Verhalten und das frühkindliche
Interaktionsverhalten wissenschaftlich betrachtet.
Frau Henzinger gelingt es, ihre Forschungserkenntnisse auf
einleuchtende und überzeugende Weise darzustellen. Sie selbst lebt
eine große Nähe zur Praxis und lässt den Leser an vielen Stellen
des Buches daran teilhaben. Die Forschungen und Erklärungen der
ethologischen Entwicklung des heutigen Betreuungsverhaltens helfen
beim Reflektieren der eigenen Handlungsmuster.
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