Rezension zu Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung
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Rezension von Julia Maria Zimmermann
Thema
Ist vielfach der Titel einer Monographie oder eines Sammelbandes
nicht unbedingt aussagekräftig, wenn es um Inhalt und Ausrichtung
geht, so lässt sich hier festhalten, dass der Titel Programm ist:
Es geht um geschlechtliche, um sexuelle und um reproduktive
Selbstbestimmung vor allem marginalisierter Gruppen, und richtet
sich an Professionelle, die mit Angehörigen dieser Gruppen
arbeiten, also Ausübende pädagogischer, psychologischer,
medizinischer und anderer sozialer Berufe.
Die Herausgebenden stellen ihren Sammelband in den Kontext der
These, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt seien gegenwärtig
nicht nur in aller Munde, sondern tatsächliche Wirklichkeit. Katzer
und Voß skizzieren, wie dieser Eindruck nach der »sexuellen
Revolution« (und den damit verbundenen Möglichkeiten der
Schwangerschaftsverhütung) sowie der De-Pathologisierung und
Entkriminalisierung von Homosexualität in den 1990er Jahren
entstehen konnte. Sie zeigen jedoch auch auf, wie brüchig, ja,
prekär diese Selbstbestimmtheit an vielen Stellen für
heterosexuelle und bisexuelle Frauen und Männer, Lesben und Schwule
ist.
Sicherlich sind die starren Rollenerwartungen an Frauen und Männer,
die vorgezeichneten Lebenswege und die Kultur gepflegter Misogynie
der »Vor-68er«q in Diskredit geraten und gelten im Gros der
Gesellschaft als antiquiert. Davon abgesehen, halten sich Urteile
darüber, wie Frauen und wie Männer zu sein haben, hartnäckig; von
einer Abkehr binärer Geschlechterverhältnisse ganz zu schweigen.
Und trotz der Sichtbarkeit nicht-heterosexueller Liebesweisen und
der vordergründigen Akzeptanz von Schwulen und Lesben, konnten
gleichgeschlechtliche Paare in Deutschland bis 2017 nicht offiziell
heiraten oder gemeinsam ein Kind adoptieren. Die Toleranz gegenüber
bisexuellen Personen ist bisweilen nicht einmal in der
LGB-Community selbstverständlich.
Ähnlich ambivalent zwischen Recht und Verbot schwankt das deutsche
Abtreibungsgesetz, und auch Verhütungsmittel werden nicht, wie
immer öfter gefordert, von den Krankenkassen übernommen (ganz zu
schweigen davon, dass die Nebenwirkungen der Pille Frauen zugemutet
werden, nicht jedoch Männern). Zusätzlich zu dieser schon
bestehenden Ambivalenz geschlechtlicher, sexueller und
reproduktiver Selbstbestimmtheit zeigt sich immer deutlicher, dass
auch die bislang erlangten Rechte und die Ansprüche auf Akzeptanz
keineswegs für die Zukunft gesichert sind.
Die Autor_innen des hier besprochenen Bandes gehen einen Schritt
weiter: Sie fragen nach der Selbstbestimmung besonders
marginalisierter Gruppen: trans- und intergeschlechtliche Personen,
asexuelle Personen, Menschen in Haft und Menschen mit Behinderung.
Sie zeigen auf und kritisieren, dass die Selbstbestimmung dieser
Menschen nicht (nur) durch Intoleranz und Backlashes bedroht,
sondern dass sie ihnen bis heute per se abgesprochen wird.
Die Herausgeber_innen und Autor_innen
Die Praxisorientierung steht als Leitgedanke des Bandes bereits im
Titel. Folgerichtig sind die Autor_innen in mehrheitlich nicht oder
nur in zweiter Linie akademisch orientiert. In den meisten Fällen
handelt es sich um Akteur_innen im Feld (»Betroffene«,
Aktivist_innen, Berater_innen), um Sozialarbeitende oder
Dozent_innen für angewandte Forschung.
Die Herausgebenden, Michaela Katzer und Heinz-Jürgen Voß, führen
die Reihe anwendungsorientierter und engagierter Beitragender an:
Katzer hat sich als Urologin auf die Selbstbestimmung von
intergeschlechtlichen Personen im medizinischen Kontext
spezialisiert. Voß ist Inhaber_in der Professur für
Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung an der FH Merseburg, und
ist ebenfalls auf die sexuelle Bildung und den Schutz vulnerabler
und marginalisierter Gruppen spezialisiert.
Aufbau
Die Herausgebenden betonen im Vorwort die bewusst gewählte
Dreiteilung des Aufbaus: Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive
Selbstbestimmung werden deutlich voneinander unterschieden und
ermöglichten so die analytische Präzision, die der Komplexität des
Themenbereiches angemessen sei (vgl. S. 9). Zudem fange der Band
bei der geschlechtlichen Selbstbestimmung an, und beuge so dem
»›alten‹« Verständnis einer Geschlechtlichkeit und Sexualität mit
Bezug auf die Fortpflanzung(sfähigkeit) vor (ebd). Ein Blick in den
Inhalt zeigt auf, wie akribisch an dieser analytischen Trennung
festgehalten wurde; eine Akribie, die sich überaus wohltuend von
der oft zu beobachtenden Vermischung sexueller und geschlechtlicher
Identitäten in der LGBTI-Forschung abhebt.
Der erste, sehr ausführliche (mehr als die Hälfte des Bandes
umfassende) Teil widmet sich der geschlechtlichen Selbstbestimmung.
Hier werden sowohl Trans*- als auch Inter*-Thematiken verhandelt,
auch hier in wohltuender Nicht-Vermischung beider Themenkomplexe.
Positiv hervorzuheben ist der Raum, der Intergeschlechtlichkeit
zugewiesen wird, die ein nicht zu übersehender Schwerpunkt
innerhalb dieses Teil des Bandes darstellt.
Den Anschluss daran bilden fünf Beiträge zur sexuellen
Selbstbestimmung. Diese wird anhand zweier Thematiken verhandelt:
Asexualität und Sexualität im Gefängnis. Asexualität hat erst in
diesem Jahrtausend den Status einer sexuellen Orientierung erlangt
– und kämpft noch immer um Legitimation und Sichtbarkeit.
Sexualität in Gefängnissen steht beispielhaft für die Unterdrückung
sexueller Bedürfnisse, wenn nicht gar völligen Desexualisierung in
»totalen Institutionen« (S. 255, nach Goffman), und könnte
Parallelen zur Situation z.B. in Psychiatrien o.ä. aufweisen.
Letzteres zeigt sich, im Hinblick auf die reproduktiven Rechte, im
Beitrag Alina Mertens im dritten thematischen Teil des Bandes.
Mertens Beitrag ist einer von drei Erörterungen zur reproduktiven
Selbstbestimmung und beschäftigt sich mit dem Recht auf
Elternschaft von Menschen mit Behinderung. Die anderen beiden
Beiträge sind der Fragestellung nach dem Zusammenhang und den
Grenzen zwischen Selbstbestimmung und dem (unbedingt bejahten)
Recht auf Abtreibung in Zeiten der pränatalen Diagnostik (Katka
Krolzik-Matthei) sowie den Möglichkeiten und Begrenzungen der
Familiengründung von LGBTI-Personen, mit Schwerpunkt auf
schwul-lesbischen Elternpaaren (Marlen Weller-Menzel) gewidmet.
Ausgewählte Inhalte
In diesem Abschnitt sollen exemplarisch zwei Themenschwerpunkte des
Bandes diskutiert werden, nämlich die Beiträge über
Intergeschlechtlichkeit sowie jene über Asexualität.
Fünf Beiträge widmen sich überwiegend oder gänzlich der Thematik
der Intergeschlechtlichkeit – eine Ausführlichkeit, die sowohl der
derzeitigen Aktualität als auch der Wichtigkeit des Themas durchaus
gerecht wird. Die Schwerpunkte der Beiträge sind jeweils
unterschiedlich und richten sich an ein diverses Fachpublikum,
wobei die erzieherischen sowie beraterischen Professionen mit je
einem eigenen Beitrag (Andreas Hechler und Manuela Tillmanns)
besonders sichtbar sind.
Den Einstieg in den Schwerpunkt macht der Beitrag Michaela Katzers,
der, aus der Perspektive medizinischer Praxis, die Verschränkungen
zwischen Intersexualität und Transsexualismus aufzeigt.
»Transsexualismus« definiert Katzer in einer diagnostischen Weise,
die Gefahr läuft, pathologisierend zu sein und leider bereits auf
einer rein begrifflichen Ebene weit hinter der gegenwärtigen
Trans*forschung zurückbleibt. Augenscheinlich eher Expertin für
Intergeschlechtlichkeit, widmet sich Katzer diesem Phänomen
ausführlicher und wissenschaftlich angemessener. Sie definiert
Intergeschlechtlichkeit als in-homogener Komplex »seltenere(r)
Entwicklungsformen körperlicher Geschlechtsmerkmale« (S. 88; kursiv
im Original). Katzer zeigt anhand von Fallbeispielen auf, dass
Intergeschlechtlichkeit und »Transsexualismus« nicht nur nicht
gegenseitig ausschließend sind, sondern dass einem
»Transsexualismus« empirisch nicht selten (in ihrem Sample 45% der
Patient_innen) eine intergeschlechtliche Disposition zugrunde
liegt. Inwiefern eine solche Lesart indirekt
Transgeschlechtlichkeit delegitimieren bzw. als »eigentliche
Intergeschlechtlichkeit« entwerten könnte, wird leider nicht
diskutiert. Katzers empirischen Ausführungen, die oft zahlenlastig
und darum für Laien etwas schwer zu interpretieren sind, werden in
einem Plädoyer zusammengefasst: Obwohl lediglich 9% der
intergeschlechtlichen Menschen einen medizinischen Eingriff an
ihren Geschlechtsmerkmalen wünschen, geben 90% der Inter*personen
an, mindestens einmal seit ihrer Kindheit operiert worden zu sein –
ein Missverhältnis, das auf einen eklatanten Mangel an
Selbstbestimmung bei Intersex-Personen (hierunter vor allem Kinder)
hinweist. Katzers Beitrag schließt mit einem umfassenden Katalog
von Thesen und Vorschlägen, wie die geschlechtliche
Selbstbestimmung von Menschen mit selteneren Entwicklungsformen
körperlicher Geschlechtsmerkmale seitens der Erziehungsberechtigten
und des medizinischen Personals sicher gestellt werden könne.
Im nachfolgenden Artikel befragt Heike Bödeker das komplizierte
Verhältnis zwischen Psychoanalyse bzw. psycho-analytischen
Konzepten zur Sexuation (Geschlechtwerdung) von Individuen
einerseits und intersexueller Realität andererseits. Der Beitrag
ist untertitelt als »Besinnungsaufsatz«, und tatsächlich lädt er
mehr dazu ein, die psychoanalytischen Grundlagen der Psychologie
und damit verbundenen Normvorstellungen zu hinterfragen, als dass
er konkrete Praxisanleitungen liefert. Von einer theoretischen
Auseinandersetzung ausgehend, stellt Bödeker fest, dass die
Psychoanalyse sich zwar recht zeitig von der Annahme verabschiedet
habe, dass Anatomie Schicksal sei. Sie illustriert schließlich
anhand von Beispielen aus der psychoanalytischen Praxis in der
Mitte des 20. Jahrhunderts, wie denn doch, wenngleich nicht
Anatomie, so doch sexuierte Rollen- und Erlebensmuster sowie
heteronormative Begehrensstrukturen die Realität des Umgangs mit
intersexuellen Frauen geprägt haben – und zwangsläufig fehlschlagen
mussten. Tragischer wird die Normverhaftung der Psychoanalyse, als
in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Eindeutigkeit der
Zweigeschlechtlichkeit in medizinischen Zugriffen hergestellt
werden konnte – ohne Gewähr, letztlich »richtig« zu liegen, aber
mit irreversiblen Folgen für die Betroffenen. Bödekers Beitrag ist
aufgrund der psychoanalytischen Sprache sowie der oft langen
Fußnoten bisweilen schwer zu lesen, bietet jedoch einen
interessanten Einblick in die psycho-medizinische Geschichte des
20. Jahrhunderts und deren Überzeugung, es könne nur zwei
eindeutige und idealerweise heterosexuell aufeinander bezogene
Geschlechter geben, und eine eindeutige Geschlechtlichkeit ließe
sich mit den »passenden« Genitalien und der entsprechenden
Erziehung herstellen. Technikbegeisterung und radikaler
Konstruktivismus trafen sich damals zu vielbeachteten medizinischen
und edukativen Kunststücken, zum Schaden der betroffenen
intersexuellen Kinder.
Näherten sich die beiden beschriebenen Beiträge von einer »äußeren«
Perspektive dem Phänomen der Intergeschlechtlichkeit, kommt im
Beitrag von Markus Bauer und Daniela Truffer die unmittelbare Sicht
Überlebender ungewollter medizinischer Eingriffe und deren
Angehörigen zu Wort. Ihr Beitrag besticht durch ein profundes
Wissen über die biologischen, medizinischen, historischen und
statistischen Hintergründe. Die Autor_innen kennen ihr Thema,
können es kontextualisieren und schließlich auf die politischen
Forderungen von intergeschlechtlichen Personen zuspitzen, die
sowohl die medizinische Implikation – keine unnötigen irreversiblen
Eingriffe – als auch rechtliche Aspekte – Geschlechtseintrag –
betreffen. Gleichzeitig verstört der Beitrag durch die, in der
Fachliteratur unübliche, unmittelbare Sprache. Die »Verstörung«
sollte hier keineswegs als Qualitätsminderung verstanden werden,
ist doch das gesamte Thema in seiner Brutalität und gleichzeitigen
Unbekanntheit in der Tat verstörend. Die durchgehende, an FGM
(Female Genital Mutilation) angelehnte, Verwendung des Kürzels IGM
für »Intersex Genital Mutilation« ist dabei durchaus
nachvollziehbar, denn um nichts anderes handelt es sich. Für
engagierte Laien mag auch die Bewertung des novellierten
Personenstandsgesetzes als »Murks« zunächst unverständlich
erscheinen. Diese Wertung wird erst im vorletzten Abschnitt
begründet, wenn das zwangsweise Outing von intergeschlechtlichen
Kindern (der Geschlechtseintrag darf nur bei »uneindeutigem«
Geschlecht unterbleiben) und die damit verbundene Stigmatisierung
scharf kritisiert werden. Dann erschließt sich jedoch
nachvollziehbar, warum die Gesetzesnovelle in der Tat problematisch
ist.
Andreas Hechlers Beitrag zu »Intergeschlechtlichkeit in Bildung,
Pädagogik und Sozialer Arbeit« ist der erste von zwei Beiträgen,
die sich unmittelbar an ein klar umrissenes Fachpublikum wenden. In
sehr ausführlicher, sehr informierter Weise gibt er konkrete
Anleitungen, wie Intergeschlechtlichkeit im schulischen Kontext
sowie in der sozialen Arbeit angesprochen und integriert werden
kann. Es handelt sich wohlverstanden um Anleitungen, die dem
jeweiligen Kontext und Publikum angepasst werden können und müssen,
die jedoch Professionellen im Erziehungsbereich als Einstieg dienen
können. In einem ersten Teil widmet sich Hechler zunächst
ausführlich dem »Lehren und Lernen über Intergeschlechtlichkeit« im
schulischen und erzieherischen Kontext. Hierbei legt er besonderen
Wert auf die Einführung ins Thema: diese solle bei den
intersexuellen Personen selbst anfangen, und nicht, wie einem
ersten, und vielleicht naheliegenden Impuls folgend, der »Theorie«.
Hechler zeigt auf, wie ein biologisch-medizinischer Einstieg Gefahr
laufe, Inter*personen zu pathologisieren, Intergeschlechtlichkeit
als Syndrom oder gar »genetische Abweichung« aufzufassen und
dadurch zu entmenschlichen. Hechler lehnt jedoch ebenso die in den
Sozialwissenschaften und der Geschlechterforschung sehr prominente
Rahmung als Kritik an der gesellschaftlichen Zweigeschlechtlichkeit
ab: Intergeschlechtlichkeit erscheine zwar vor der Folie binärer
Vorstellungen von Geschlecht »qua Existenz als lebendiger
Widerspruch« (S. 165). Hierbei werde allerdings oft abermals nicht
von den konkreten Lebensrealitäten und Bedürfnissen von
Inter*personen ausgegangen, wodurch diese für
gesellschaftskritische Politiken instrumentalisiert würden. Statt
dieser Makroperspektive sollten also die Betroffenen als
»eigentliche Expert_innen« (S. 170) für Intergeschlechtlichkeit
wahr- und ernstgenommen werden. Derselbe Ansatz des Schutzes und
der Definitionsmacht prägt auch Hechlers Plädoyer für die
(sozial)pädagogische Arbeit mit Inter*personen. Empowerment und
Peer-Erfahrungen stehen im Fokus des Erziehungsziels. Einen
mutmachenden Ausblick gibt es: Hechler stellt fest, dass Kinder
gegenüber Diversität weitaus aufgeschlossener sind als Erwachsene –
diese Aufgeschlossenheit gilt es zu bewahren.
Im fünften und letzten Beitrag zum Themenkomplex der
Intergeschlechtlichkeit widmet sich Manuela Tillmanns, jeweils auf
einer theoretischen, methodologischen und praktischen Ebene, der
Einbeziehung von intergeschlechtlichen Interessen in der
Beratungspraxis (meist Anlaufstellen für LGBTIQA). Sie definiert
drei Grundlagen der Integration von Intergeschlechtlichkeit in die
Beratung: »Doing Inter*«, meint die »Thematisierung, Akzeptanz und
Unterstützung von Intergeschlechtlichkeit in allen Lebensbereichen
und auf allen Handlungsebenen« (S. 192). In Anlehnung an den
theoretischen Ansatz des »Doing Gender«, den Tillmanns
fälschlicherweise Judith Butler zuschreibt, bedeutet »Doing Inter*«
namentlich die »Veralltäglichung von Intergeschlechtlichkeit«
(ebd.), die gleichberechtigt und ebenso selbstverständlich neben
anderen Geschlechtlichkeiten steht. »Inter*-Mainstreaming«, als
zweite Grundlage, stellt, analog zum Gender-Mainstreaming, ein
organisatorisches Instrumentarium zur Sicherstellung der
Sensibilisierung für Inter*belange auf allen Ebenen des täglichen
Lebens. Hier ist die Einbeziehung von Inter*personen und/oder
-verbänden unverzichtbar. »Inter*-Counselling« schließlich ist die
Umsetzung von »Doing Inter*« und »Inter*-Mainstreaming« im
konkreten Beratungskontext, und zielt auf die inter*spezifische
Professionalität der beratenden Person, die peer-basierte
Organisation, z.B. in Selbsthilfegruppen, sowie die Schaffung einer
wertschätzenden Beratungsatmosphäre ab. Zusammengefasst, handelt es
sich um die Ausdehnung guter Beratungspraxis für marginalisierte
Gruppen auf intergeschlechtliche Personen, was zweifellos leichter
gesagt als getan ist. Tillmanns erörtert im zweiten Teil ihres
Beitrags verschiedene Formate von Beratung, sowie deren
Möglichkeiten und Grenzen der Integration von Intersexuellen und
deren Interessen. Obwohl diese Überlegungen als »Ansatzpunkte für
Abschluss und Diskussion« (S. 202) notwendigerweise ergebnisoffen
bleiben, stellt Tillmanns heraus, dass der gemeinsame Nenner aller
Beratungspraktiken die selbstbestimmte Vertretung
intergeschlechtlicher Interessen und die Übertragung der
Deutungshoheit von der Medizin auf intergeschlechtliche Menschen
ist.
Abschließend betrachtet, lassen sich aus der Gesamtschau der
Beiträge zwei zentrale Anforderungen an die Selbstbestimmung
intergeschlechtlicher Personen herauslesen:
(1) Inter*personen müssen als Expert_innen ihres Körpers, ihrer
Erfahrungen und ihrer Interessen wahr- und ernstgenommen werden.
Dies impliziert einerseits eine Abkehr von der medizinischen
Deutungshoheit und damit verbundenen rechtlichen Rahmungen, sowie
natürlich ein Ende nicht-konsensueller medizinischer Eingriffe,
andererseits jedoch auch einen Verzicht darauf,
Intergeschlechtlichkeit und Intersex-Personen als Token
sozio-politischer Bewegungen gegen Geschlechterbinarität zu
instrumentalisieren.
(2) Eine pauschale Lösung kann es, wie so oft, nicht geben.
Natürlich gibt es nicht „die intersexuelle Person“, sowohl die
Manifestierung von Intergeschlechtlichkeit als auch alle anderen
Marker von Identitäten – Klasse, Ethnizität, sexuelle Orientierung,
Gesundheit, Nationalität, Alter usw. – sind überaus divers, ebenso
wie die konkreten Lebensumstände, die Resilienz gegenüber bzw. die
Copingstrategien mit traumatischen Erfahrungen, die soziale
Einbettung und die konkreten Interessensforderungen. Eine
»catch-it-all«_Lösung kann und sollte es nicht geben.
Zwei Beiträge zur sexuellen Selbstbestimmung widmen sich der
Asexualität, eine Thematik, die im deutschsprachigen Raum erst
zögerlich Eingang in die sexualpädagogische und -beraterische
Praxis gefunden hat. Nachholbedarf besteht hier vor allem in der
Wissensvermittlung an pädagogisches Personal sowie die
sexual-medizinischen und -psychologischen Berufe. Diese
Wissenslücke suchen Nadine Schlag und Andrzej Profus in ihren
Beiträgen zu schließen.
Nadine Schlag nähert sich der Asexualität aus einer diskursiven
Sichtweise. Das Selbstverständnis asexueller Personen kontrastiert
sie mit einer klinischen (und pathologisierenden) Einschätzung des
Psychotherapeuten Richard Fellner, und einen historischen Abriss
der Perzeption von Asexualität in der Psychologie mit einer
zeitgenössischen Perspektive von Volkmar Sigusch. Obgleich sie mit
Ausnahme der der Definition gewidmeten Einführung lediglich
dezidiert nicht-asexuelle Autoren (!) referiert, gelangt Schlag in
ihrem Fazit zu dem Schluss, eine emanzipatorisch orientierte,
Asexualität einbeziehende Sexualaufklärung müsse Asexuellen selber
die Definitionsmacht überlassen. Dieses auf Selbstbestimmung und
Selbstdefinition abzielende Fazit setzt somit zusammen mit dem
einführenden Kapitel eine Klammer, innerhalb derer die
deutschsprachige Sexualwissenschaft vom 19. bis zum 21. Jahrhundert
als der Thematik nicht gerecht werdend kritisiert werden kann.
Dieser Einschätzung ist zwar zunächst nichts hinzuzufügen. Jedoch
übergeht Schlag, dass dies wirklich (wie sie selber anmerkt) auf
die ›deutschsprachige‹ Forschung zutrifft – keineswegs jedoch auf
die englischsprachige sexualwissenschaftliche Forschung, die in den
letzten zehn Jahren wiederholt in Studien aufgezeigt hat, dass
Asexualität eine sexuelle Orientierung, und keine wie auch immer
geartete Störung sei. Eher hintergründig zeigt Schlag jedoch noch
ein anderes Problem auf: die kontinuierliche In-Frage-Stellung
bisheriger Definitionen von Asexualität auf der Grundlage
subjektiver Erfahrungen und die damit verbundene
Komplexitätssteigerung auf verschiedenen Ebenen. Historisch
gesehen, lässt sich in der Diskussion über Asexualität unter
Asexuellen eine Bewegung weg von der Handlungsebene (etwa
»fehlendes Interesse an sexuellen Handlungen«) hin zur
Anziehungsebene beobachten, sodass die Definition als »fehlende
sexuelle Anziehung gegenüber Personen aller Geschlechter« heute als
verbindliche Definition gelten kann. Angesichts der
Vervielfältigung analytischer Ebenen der Asexualität – neben der
Unterscheidung zwischen Anziehungs- und Handlungsebene auch die
romantische und libidinöse Ebene – die jeweils diverse Ausprägungen
haben können, ist also vor allem eine Präzision der
Begrifflichkeiten und Definitionen vonnöten. Dies kann, auch wenn
Schlag dieses Fazit selbst nicht explizit zieht, als ein Ergebnis
ihrer Annäherung an den Asexualitätsdiskurs festgehalten
werden.
Den internationalen Diskurs über Asexualität, der überwiegend
online geführt wird, referiert Andrzej Profus in ihrem_seinem
umfassenden, aktuellen und differenzierten Beitrag über Asexualität
als »unsichtbare sexuelle Orientierung«. Es wäre, im Hinblick auf
die Hinführung zu diesem noch sehr wenig beachteten Thema,
vielleicht sinnvoller gewesen, diesen Beitrag vor den Nadine
Schlags zu setzen, um letzteren besser einordnen zu können. Profus
präsentiert die »unsichtbare Orientierung« überaus detailliert und
ausgewogen. In einem kurzen historischen Abriss zeigt sie_er die
Geschichte der Beziehung von Asexualität und Sexualpsychologie auf,
die spannend und durchaus wechselvoll ist, und die ganz sicher noch
zu schreiben ist: Anders, als es in Reportagen bisweilen den
Anschein hat, ist das Phänomen Asexualität keineswegs neu, sondern
Sexualforscher_innen seit dem 19. Jahrhundert bekannt. Immer wieder
wurde notiert, dass es Menschen gebe, die keine sexuellen Neigungen
verspürten, doch wurde der Thematik keinerlei (oder nur ganz
marginale) Aufmerksamkeit geschenkt, etwa in der bahnbrechenden
Studie Alfred Kinseys (S. 228). Asexualität wurde auch nicht
offiziell als Störung verstanden, bis 1980 (!) erstmals die
»verminderte sexuelle Begierde« ins DSM aufgenommen und seither
beibehalten wurde (Hypoactive Sexual Desire Disorder, HSDD),
wenngleich seit der aktuellen 5. Auflage des DSM mit dem Hinweis,
fehlende sexuelle Begierde im Rahmen von Asexualität sei nicht als
Störung zu bewerten (S. 229).
Profus verweist auch deutlich auf den analytischen Unterschied
zwischen sexueller Orientierung und sexueller Praxis (S. 230 ff.),
sexueller und romantischer Orientierung (S. 237 ff.), und führt
Asexualität als asexuelles Spektrum ein – mittlerweile Common Sense
in der asexuellen Community, und dennoch häufig unterschlagen. Eine
sehr schöne und dabei erhellende Illustrierung erhält Profus´
Beitrag durch häufige, thematisch passende und ausführliche Zitate
asexueller Personen. Mehr als durch theoretische Ausführungen wird
hier deutlich, wie sehr die asexuelle Orientierung und vor allem
die Personen, die sich zu dieser Orientierung bekennen, alltäglich
entwertet und/oder pathologisiert werden.
Eine Andeutung in diesem Beitrag sei noch zu erwähnen (S. 235 f.):
Asexualität existiert, wie alle anderen Sexualitäten, in einer
Gesellschaft, die eine Vielzahl von Ungleichheiten kennt:
ethnische, kulturelle, altersbedinge, gesundheitsbedingte, klassen-
und bildungsspezifische. Die Verknüpfungen zwischen (A)Sexualitäten
und diesen Ungleichheiten bringen Zuschreibungen, Einschränkungen
und Grenzen des Legitimierbaren hervor, die Sexualität als soziales
Konstrukt offenbart: während jungen, gesunden, »nicht-weißen« und
vielleicht weniger gut gebildeten Menschen zugeschrieben wird,
besonders sexuell aktiv zu sein, wird anderen Gruppen – Alten,
Kranken, aber auch Kindern, sowie religiösen Gruppen – per se
jedwede Sexualität abgesprochen. Wieder andere, gebildete, »weiße«
Menschen »dürfen« asexuell sein, da dies, so die Annahme, deren
Produktivität, lies: ökonomische Verwertbarkeit, steigere.
Angesichts der Aufmerksamkeit, die Asexualität in diesem Band
erhält, eine Aufmerksamkeit, die, wie insbesondere aus dem Beitrag
Profus´ hervorgeht, gerade für Professionelle der beratenden,
psychologisch-therapeutischen und medizinischen Berufe höchst
wünschenswert ist, ist es in der Gesamtschau aller Beiträge des
Bandes etwas verwunderlich, wenn Asexualität als sexuelle
Orientierung in keinem der übrigen Beiträge berücksichtigt wird.
Sicher – nicht überall muss Asexualität explizit erwähnt werden.
Doch ein Hinweis etwa in Anja Krubers lesenwerten Beitrag zu Trans*
und Sexualität darauf, dass selbstverständlich auch Trans*personen
asexuell sein können, ohne, dass dies im Rahmen ihrer
Transgeschlechtlichkeit interpretiert und pathologisiert werden
sollte, hätte meines Erachtens notgetan. Geradezu ärgerlich sind
zwei Passagen aus Torsten Klemms Beitrag zum Liebesbedürfnis in
Haft. Hier handelt es sich, wohlverstanden, um nicht-asexuelle
Häftlinge, deren erzwungene Abstinenz als qualvoll erlebt wird. Die
Formulierung »(d)ie menschlichen Bedürfnisse nach Kontakt,
Beziehung, Partnerschaft, Zärtlichkeit und Sexualität (.)« (S. 269)
bringt diesen Umstand jedoch nicht besser zum Ausdruck, als es
beispielsweise der Verzicht auf das Adjektiv »menschlich« getan
hätte. Umgekehrt hätte dieser Verzicht jedoch einen kleinen, aber
wertvollen Beitrag zur Anerkennung von asexuellen und aromantischen
Personen leisten können, die gerade mit Vorurteilen der
Entmenschlichung zu kämpfen haben (z.B. Hodson 2012). Im Lichte
beider Beiträge zur Asexualität ist die von Klemm geäußerte
Vermutung, Häftlinge entwickelten »eine frei gewählte, bewusste und
persönlich favorisierte asexuelle Orientierung« (S. 272) schlicht
falsch: die »asexuelle Orientierung« ist eben nicht frei gewählt
oder bewusst angenommen. Klemm spricht hier von Zölibat oder
Abstinenz, nicht aber von Asexualität. Hier hat eine
Bedeutungsverschiebung des Begriffs stattgefunden, die wahrgenommen
werden sollte.
Diskussion
Seinem titelgebenden Anspruch, die Selbstbestimmung ins Zentrum
nicht nur der Aufmerksamkeit, sondern der konkreten Praxis zu
stellen, wird »Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive
Selbstbestimmung« vollauf gerecht: Alle Autor_innen sind diesem
Anspruch sichtbar verpflichtet. Diese Verpflichtung geht in vielen
Beiträgen über eine bloße Interessenvertretung hinaus und plädiert
für die Definitionsmacht marginalisierter Gruppen. Die Implikation
dieses Plädoyers liegt nicht nur in der Übertragung von Expertise
von den, in erster Linie, psycho-medikalen Professionellen auf die
marginalisierten Personen selber. Sie geht meines Erachtens in
durchaus logischer Konsequenz weiter und betrifft die Neubewertung
von Expertise insgesamt. Die derzeitig stattfindenden
Definitionsbestrebungen von Asexualität durch (fast ausschließlich)
Asexuelle, die bereits Anwendung in der Forschung gefunden hat –
ein Wissenstransfer also von »unten« nach »oben«“ – mag hier als
Beispiel unter vielen dienen. Der Ansatz der meisten Beiträge folgt
dieser Entwicklung, und lässt diejenigen, um die es geht, in vielen
Fällen ausführlich zu Wort kommen. Dies ist umso erfreulicher, als
dass marginalisierte Gruppen im Fokus stehen, die in vielen Bänden
zu geschlechtlicher, sexueller und reproduktiver Gesundheit noch
immer zu kurz kommen oder gänzlich übersehen werden – zusätzlich zu
den vorgestellten Beiträgen im vorherigen Kapitel sei hier
namentlich auf die Beiträge über das Recht auf Sexualität in Haft
sowie das Recht auf Reproduktion von Personen mit geistigen und
körperlichen Behinderungen verwiesen.
Natürlich kann gerechterweise nicht erwartet werden, dass
»Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung« die
aufgeworfenen Fragen gänzlich beantwortet. Konkrete Anleitungen
fehlen in vielen Fällen selbst in den Beiträgen, die sich besonders
ernsthaft um Praxisnähe und konkrete Forderungen bemühen.
Gleichzeitig geht jedoch aus nahezu allen Beiträgen deutlich
hervor, dass marginalisierten Gruppen, zu deren Fürsprecher_innen
die Autor_innen sich machen, allzu divers sind, als dass
individuell und situativ passende Schablonen bereitgestellt werden
können. Die Beiträge, das tritt ganz klar zutage, verstehen sich in
erster Linie als aufklärend, wo dies Not tut, und als Initiation
von Ideenaustausch und kreativen Lösungsansätzen.
Fazit
»Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung.
Praxisorientierte Zugänge« versammelt 15 Aufsätze, die sich mit den
Realitäten, Grenzen und Ermöglichungen der Selbstbestimmung
geschlechtlich, sexuell und reproduktiv marginalisierter
Minderheiten auseinandersetzen und Anregungen geben, in der
sozialpädagogischen, beraterischen und psychosozialen Praxis diese
Selbstbestimmung zu bestärken. Der Fokus auf noch besonders wenig
berücksichtigte Gruppen wie intergeschlechtliche und asexuelle
Personen, sowie der diskursive Raum, der diesen Gruppen gegeben
wird, macht den Band für Professionelle der Sozialberufe und
Akademiker_innen gleichermaßen lesenswert und bereichernd. Aufgrund
dieser neuartigen Perspektiven kann er als Aufforderung zu weiterem
Engagement und Austausch verstanden werden.
Summary
The anthology »Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive
Selbstbestimmung. Praxisorientierte Zugänge« (Sex/gender-related,
Sexual and Reproductive Self-determination. Practical Approaches)
collects 15 papers which discuss the auto-determination and
autonomy of marginalized minorities with regard to gender, sex,
sexual orientation and sexuality, as well as reproductive rights.
They provide impulses on how to strengthen the actual autonomy of
these groups in professional contexts in the fields of (sexual)
education, social work, therapy and other. Neglected groups such as
intersexual and asexual persons are particularly high-profiled.
This factor and the large space which is given to personal
experiences of these groups are of interest not only for
professionals, but for academics alike. Additionally, the often
unprecedented perspectives invite to further reflection and
discussion.
Literatur
Gordon Hodson (2012): »Prejudice Against ›Group X‹ (Asexuals).
Disliking those with no sexual attraction to others«, auf:
Psychology Today; URL: www.psychologytoday.com (Zugriff am
19.6.2017)
Rezensentin
Julia Maria Zimmermann
Soziologin M.A., Université de Luxembourg
www.socialnet.de