Rezension zu Unterwegs zur funktionierenden Gruppe
Psychotherapeutenjournal, 16. Jahrgang, Heft 2, Juni 2017
Rezension von Gerhard Härle
Ein Kompendium der Gruppenentwicklung
Wer den Titel des vorliegenden Buchs wörtlich nimmt, könnte zu der
Annahme verführt werden, es handle sich um einen wohlfeilen
Ratgeber, wie man eine Gruppe zum »Funktionieren« bringt. Aber
diese Auffassung würde der Intention der Autoren nicht gerecht, wie
sie selbst im Vorwort betonen. Angelika Rubner und Eike Rubner
bieten vielmehr ein gleichermaßen theoretisch fundiertes wie
praxisrelevantes Kompendium der Entwicklungsphasen und -potenziale
von Gruppen aller Art, seien sie psychotherapeutisch, pädagogisch
oder beruflich ausgerichtet. Ihre Zielgruppe sind Fachleute aus
Psychotherapie, Supervision und Beratung sowie aus Schule,
Hochschule und Teamentwicklung, die solche Gruppen leiten oder
supervidieren.
Das Autorenteam – beide sind seit Jahrzehnten als Klinische
Psychologen und Psychologische Psychotherapeuten/Psychoanalytiker
tätig – entwickelt hier ein neues, eigenständiges Modell von
Gruppen, dem wissenschaftlich betrachtet eine anspruchsvolle
Synthese psychoanalytischer, gestaltpsychologischer und
interaktionistischer Sichtweisen auf Gruppenprozesse zugrunde
liegt. Gerahmt und fundiert wird die Position von den methodischen
Postulaten der Themenzentrierten Interaktion (TZI), einer
Gruppentheorie, die der humanistischen Psychologie zuzurechnen ist.
Präzise grenzen die Autoren den Begriff »Gruppe« gegen andere
Konstellationen ab (S. 17-23), erläutern anschaulich die
Notwendigkeit und die Leistungen unterschiedlicher »Rollen« in
Gruppen (S. 24–39), führen historisch und systematisch in das
Modell der TZI ein (S. 41–64) und bieten einen verdichteten Abriss
relevanter Zentralbegriffe wie Projektion, Übertragung, Widerstand,
Krise oder Störung, der auch die tiefenpsychologische Bedeutung von
Träumen für die Gruppenentwicklung berücksichtigt (S. 65–100).
Das Herzstück des Buchs bildet das genuine Modell der sechs
»Entwicklungsphasen in Gruppen« der Autoren (S. 101–167), das sich
nun auf dieser Theoriebasis als ›idealtypischer dynamischer
Gruppenverlauf‹ und nicht als normativ gesetzte Abfolge notwendiger
Ereignisse lesen lässt. Die Erläuterungen der Phasen und ihrer
Charakteristika durchleuchten einerseits die ›Makroprozesse‹ eines
Gruppengeschehens, das sich von der Orientierung und Annäherung
über die – auch konfliktträchtige – Verdichtung in den
antagonistischen Strebungen der Zusammengehörigkeit und Abgrenzung
bis hin zu vertrauensvollem Zusammenwirken und gelingendem
Auseinandergehen entfaltet. Andererseits trägt das Modell erheblich
dazu bei, auch ›Mikroprozesse‹ individueller Aktionen,
Interaktionen und Kontraaktionen besser zu verstehen, indem man
Beiträge und Verhaltensweisen von Gruppenmitgliedern unter dem
Blickwinkel der Gruppenphase und der in ihr besonders virulenten
psychischen Mechanismen betrachtet. Hier gibt das Buch wichtige
Impulse, die angemessene (Selbst-)Reflexionen und Interventionen
für Leiter bzw. Supervisoren und weiterführende Prozessschritte
anregen können.
Unverkennbar argumentieren Rubner und Rubner, der eigenen
professionellen Basis und der Genese der TZI entsprechend,
überwiegend von einem psychoanalytischen Standpunkt aus: Es geht
ihnen immer um ›das vertiefte, behutsam aufdeckende Verstehen‹
intrapsychischer und interpersoneller Prozesse, die sich in der
Begegnung von Menschen ereignen. Dass sie hierbei der Figur des
Leiters eine zentrale Aufgabe als Projektionsfläche, Modell und
steuernde Instanz zuweisen, ist nicht nur eine Folge der
Adressatenorientierung des Buchs, sondern auch des theoretischen
Ansatzes, mit dem sie die von der TZI propagierte partizipative
Teilhabe des Leiters am Gruppengeschehen mit einem konturierten
Rollenverständnis füllen.
In seiner Neuartigkeit und Kompaktheit ist das Buch ein großer
Gewinn für alle professionellen Praktiker, die Entwicklungen von
Gruppen sowohl tiefer verstehen als auch besser (an-)leiten können
wollen. Es bietet darüber hinaus auch jenen, die sich theoretisch
mit Gruppenprozossen auseinandersetzen, zahlreiche intellektuelle
Anregungen und macht sie mit einem aus der Gruppenpraxis und der
Gruppentheorie abgeleiteten plausiblen Modell vertraut. In diesem
Kontext erscheinen einige Aspekte jedoch auch durchaus
diskussionsbedürftig: So die Figur des »Gegners« als für die
Gruppenbildung konstitutives Element in dem herangezogenen
Interaktionsmodell von Schindler (S. 21, 24 u. ö.), dessen
Terminologie jedoch trotz aller (Um-)Deutungen als »Gegenüber«,
»Begegnendes« oder schlicht als »Aufgabenstellung« in Spannung zur
Konsens-Orientierung des humanistischen Ansatzes steht; ähnliches
ließe sich auch gegen die Verwendung der gestaltpsychologischen
»Figur-Hintergrund«-Dichotomie (S. 65 ff.) einwenden. Auch wäre es
vor dem antifaschistischen Hintergrund der TZI interessant, die aus
einem vergleichbaren Begründungskontext entstandene Phänomenologie
der »Masse« bei Canetti den Positionen von Le Bon und Freud (S. 20
f.) gegenüberzustellen. Diese Einwände schmälern jedoch den Wert
des Buchs keineswegs, sondern zeigen auf, in welch gewinnbringender
Weise sich die angestoßene Diskussion weiterführen ließe.
Prof. Dr. Gerhard Härle, Heidelberg
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