Rezension zu Die Welt der Dinge

Psychotherapeutenjournal, 16. Jahrgang, Heft 2, Juni 2017

Rezension von Klaus Hoffmann

Außergewöhnlich modern

Der US-amerikanische Psychoanalytiker Harald F. Searles (1918–2015) war in den 1980er-Jahren auch in der deutschen Fachöffentlichkeit durchaus bekannt und geschätzt. Von 1952 bis 1964 arbeitete er in dem berühmten Sanatorium Chestnut Lodge in Washington, D.C., unter anderem gemeinsam mit Frieda Fromm-Reichmann. Seine 1965 erschienenen »Collected Papers on Schizophrenia and Related Subjects« wurden 1992 bei Klett-Cotta und 2008 im Psychosozial-Verlag auf Deutsch veröffentlicht. Völlig zu Recht gilt Searles mittlerweile als einer der wichtigsten klinischen wie theoretischen Vertreter einer psychoanalytischen Behandlung Psychosekranker und hatte einen intensiven Austausch mit Donald W. Winnicott und Hans W. Loewald. Heute generell akzeptierte Themen wie die Bedeutung der Gegenübertragung, des Wechsels von Stützen und Deuten in der Behandlung und des aktiven Einbezugs des stationären wie ambulanten Alltags sowie kreativer und künstlerischer wie auch körperbezogener Elemente formulierte er in einer Zeit, als »klassische« Psychoanalytikerinnen und -analytiker dies als nicht vereinbar mit analytischem Vorgehen ablehnten – was auch die zeitlich stark verzögerte Rezeption in Europa wesentlich erklärt.

Eine kleine Geschichte in der Einleitung der beiden Herausgeber Jürgen Hardt und Antje Vaihinger, denen für ihr Werk Lob und Anerkennung gebührt, führt sehr passend in die Zielsetzung des Buches ein: Eine offensichtlich zur Sicherheit im Rahmen des Produktionsprozesses unbrauchbar gemachte Gabel aus der Klinik, in der Hardt Anfang der 1970er-Jahren arbeitete, machte einem chronisch Kranken klar, dass er jetzt verrückt sei. Verrücktheit existiert auch in der realen Außenwelt. Hardt fragte bei der Herstellerfirma nach und diese berichtete, ihr sei es nicht nachvollziehbar, weshalb die Gabel vor ihrer Fertigstellung aus dem Werk gelangt sei. In der psychiatrischen Klinik fand sich noch eine zweite solche Gabel. Die »unvollständig gefertigte« Gabel ziert auch den Buchumschlag. Wir alle leben in unserer Umwelt, Psychosekranke gehen oft sensibler mit ihr um als Gesunde, haben es oft schwerer, sich von ihr abzugrenzen.

Searles schildert ausführlich diese Beziehungen. Der Umgang mit Natur und dem vom Menschen Geschaffenen entwickelt sich während der Kindheit und Jugend. Unser Bild von der Erde korrespondiert mit unserem Bild von uns selbst. Wer früh Verwahrlosung und verantwortungslosen Umgang mit der Ökologie erfährt, wird psychisch beeinträchtigt. Searles benutzt selbst den Begriff der ökologischen Bezogenheit, ist auch damit seiner Zeit weit voraus. Umso schrecklicher ist es, dass bis heute viele Institutionen für psychisch Kranke in Raumgestaltung und Alltag eher diese Verwahrlosung weiterführen, anstatt hier im Sinne »korrigierender emotionaler Erfahrungen« einen Kontrast zu setzen. Gerade die Industrialisierung habe laut Searles den Menschen immer mehr von der Natur entfremdet, Naturmetaphern stellten dennoch weiterhin wichtige Bestandteile der Sprache dar, insbesondere wenn Gefühle benannt würden. Searles greift immer wieder auf Philosophen wie Martin Buber oder Dichter wie Henry David Thoreau zurück, um die intensive Begegnung zwischen Mensch und Umwelt als notwendigen gesundheitsfördernden Prozess zu beschreiben – außergewöhnlich modern, wenn man an aktuelle Konzepte wie Achtsamkeit oder ökologische Psychotherapie denkt. Searles erweitert das dialogische Ich-Du-Konzept auf den Umgang des Menschen mit seiner Umwelt.

Eindrucksvoll lesen sich auch die Fallvignetten. Der Autor lässt sich mit unermesslicher Geduld auf zähe paranoide Prozesse ein, die Patientinnen und Patienten reagieren letztlich durchaus positiv darauf. Heilung bedeutet bei der Behandlung solch schwer Kranker nicht Verschwinden der Symptome, sondern ein etwas Mehr an innerem Frieden. Regressionen in Therapien werden zugelassen, auch wenn sie viel Zeit in Anspruch nehmen – ein interessanter Kontrapunkt zu aktuellen, an schnellem Erfolg orientierten Diskursen.

Dem Werk ist eine breite Resonanz zu wünschen, nicht nur in der akademischen Psychotherapie, sondern auch in Sozialarbeit und Pflege (immerhin wird auch eine Pionierin der psychoanalytischen Pflege Geisteskranker zitiert, Gertud Schwing). Sehr bedauerlich ist, dass viele Zitate und auch Fallvignetten des originalen Werkes offensichtlich aus finanziellen Erwägungen des Verlages nicht übersetzt wurden. Es stehen lediglich die Hinweise im Text, was ausgelassen wurde. Sowohl die theoretische wie die klinische Fülle des Autors sind in der deutschen Übersetzung somit nur mit störenden Kürzungen wiedergegeben – was in einer hoffentlich folgenden nächsten Auflage korrigiert werden wird.

Prof. Dr. med. Klaus Hoffmann, Reichenau

www.psychotherapeutenjournal.de

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