Rezension zu Zeugenbetreuung von Holocaust-Überlebenden und Widerstandskämpfern bei NS-Prozessen (1964-1985)
Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Heft 6/2017
Rezension von Hartmut Rübner
Über die psychischen Spätfolgen der in den NS-Prozessen bis in die
1980er-Jahre als Zeugen auftretenden Holocaust-Überlebenden und
Widerstandskämpfer liegen bislang nur wenige Untersuchungen vor.
Dem elementaren Kriterium in diesem Kontext – dem Opferschutz – ist
seinerzeit kaum Beachtung zuteil worden. Erst im Laufe der Zeit
konnte eine professionalisierte Zeugenbetreuung installiert werden.
(1) Vor diesem Hintergrund füllt die aus einer an der Universität
Kassel eingereichten Dissertation hervorgegangene Studie von Merle
Funkenberg eine Leerstelle. Eingehend thematisiert die Autorin die
juristischen Besonderheiten der Strafverfahren gegen die
nationalsozialistischen Gewaltverbrecher. Im Hauptteil der Arbeit
befasst sie sich mit den »emotionalen Aspekte(n) von Zeugenschaft
und Betreuung«. Als empirische Grundlage für das dafür
operationalisierte Erhebungsverfahren dienen
narrativ-lebensgeschichtliche Interviews. Dieser Quellenfundus wird
mit dem von dem Psychologen Philipp A. E. Mayring konzipierten
Methodenansatz der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Dabei
richtet sich der Blick auf die emotionalen Erfahrungen sowohl der
Zeugen als auch der Betreuer. Letztere erlebten die Opferzeugen
jeweils vor und nach ihren Auftritten vor Gericht. Viele Zeugen
fühlten sich in einem Dilemma gefangen: Ihre Bereitschaft zur
Aussage stand der Angst vor möglichen Intrusionen entgegen, einem
erneuten Durchleben traumatischer Ereignisse.
Im Unterschied zu den Kriegsgeschädigten und den Heimkehrern aus
der Gefangenschaft hatten die überlebenden Opfer wenig Empathie von
einer Psychiatrie bzw. Psychologie zu erwarten, deren Diagnosen
tendenziell auf die Abwehr »ungerechtfertigte(r) neurotische(r)
Ansprüche« abstellten (S. 59). Denn die westdeutsche Ärzteschaft
hatte sich seit Kriegsende überwiegend auf die Erkrankungen der
Kriegsopfer konzentriert. Kein Wunder also, dass die zumeist aus
dem Ausland angereisten Zeugen mehr oder weniger alleingelassen
blieben. Ähnliches gilt für die Verfahrensweisen der Behörden in
der Entschädigungsfrage. Sowohl bestimmte Aspekte wie auch die
penible Ausführungspraxis des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG)
von 1956 werteten die Betroffenen vielfach als unzulänglich und
nicht selten als diskriminierend. Im Vergleich zum
Überprüfungsprozedere bei potenziellen NS-Belastungen war die
Beweislast bei den Opfergruppen wesentlich anspruchsvoller.
Außerdem waren die Entschädigungsverfahren zumeist langwierig.
Ernste Vermutungen kamen auf, dass es die Behörden geradezu auf den
vorzeitigen Tod der Antragsteller anlegten. Den Zusammenhang von
Verfolgung und psychischen Beeinträchtigungen erkannte der
Gesetzgeber erst 1965 an. Bis dahin berief sich die Legislative auf
jene psychiatrischen Theorien der 1920er-Jahre, welche
Traumatisierungen – unabhängig vom jeweiligen Schweregrad –
lediglich temporäre Beeinträchtigungen zuschrieben. Dauerhaffe
Störungen wie depressive Erkrankungen oder Psychosen galten als
genetisch bedingt und nicht als kausale Folge äußerer Schädigungen.
Dabei vereinfachte die grundsätzliche Anerkennung psychischer
Spätfolgen durch die Gesetzgebung die prekäre Situation für die
Betroffenen keineswegs.
Verständnis und Hilfestellung bei der Bewältigung traumatischer
Spätfolgen wie auch Beistand bei den formalen Angelegenheiten boten
erst die sich nach und nach bildenden Betreuergruppen, waren die
Defizite bei der Zeugenbehandlung doch offensichtlich. In den
formalisierten Gerichtsverfahren gerieten die Aussagen der
exponierten Zeugen zur entfremdeten Faktenerhebungsprozedur.
Anteilnahme oder Mitgefühl mit den Opferzeugen waren unter dem
Primat der Wahrheitsfindung gar nicht vorgesehen. Besonders die
Zeugenbefragungen durch die Strafverteidiger der Angeklagten
mussten die Betroffenen als peinigend und off als erniedrigend
empfinden. Im günstigsten Fall traten nach der Aussage vor Gericht
erleichternde Effekte ein. Insofern berichten die Betreuergruppen
in den NS-Prozessen durchweg von intensiven und zumeist
vertrauensvollen Beziehungen mit den Zeugen. In dem interaktiven
Setting einer »sekundären Zeugenschaft« berichteten die Betroffenen
nicht selten über tabuisierte Verbrechen, die vor Gericht aus Scham
nicht zur Sprache kamen. Die auf der Basis dieser »kurzfristigen
therapeutischen Allianz« (S. 341) entstandenen engen
Beziehungsverhältnisse überdauerten die Prozesse manchmal noch
viele Jahre.
Auch die Berichterstattung über die NS-Gerichtsverfahren und deren
Rezeption blendet die Studie nicht aus. Das öffentliche Interesse
war insgesamt ambivalent und verlief konjunkturell. Zuweilen
blieben die Besucherplätze in den Gerichtssälen beinahe leer, in
anderen Fällen drängte sich das Publikum geradezu. Allein die
gesellschaftlichen Wirkungen dieser Verfahren lassen sich ohne
weiterführende Untersuchungen kaum einschätzen. Zweifellos überwog
in der Bevölkerung über lange Zeit eine ausgesprochene
Schlussstrichmentalität. Alexander und Margarete Mitscherlich
bescheinigten der bundesdeutschen Konsum- und Leistungsgesellschaft
eine »manische Abwehr durch Ungeschehenmachen im
Wirtschaftswunder«, mithin eine kollektive »Unfähigkeit zu
trauern«. Die Unmöglichkeit der »Bewältigung« des millionenfachen
Mordens symbolisierte nicht zuletzt die offenkundige »Ohnmacht der
Gerichtsverfahren gegen Täter wegen der Größenordnung ihrer
Verbrechen«. (2) Aus den zeitgeschichtlichen Umständen und dem
juristischen Vorgehen geht konkret hervor, wie die selbst gegen die
ausgewiesenen Exzesstäter ausgesprochenen moderaten Urteile zur
Frustration der Betreuer beitrugen. Erst durch die TV-Serie
»Holocaust« rückten auch die Leidensschicksale der Opfer stärker in
das Blickfeld der allgemeinen Öffentlichkeit.
Die in dieser Studie berücksichtigten Betreuergruppen wurden
übrigens nicht von den Behörden beauftragt, sondern entstanden im
Zuge zivilgesellschaftlichen Engagements. Die sozio-kulturelle
Zusammensetzung der ehrenamtlich tätigen Helfer war heterogen:
Katholiken und Protestanten ebenso wie Atheisten; Studierende,
Berufstätige oder Hausfrauen, darunter ein großer weiblicher
Anteil; und auch einige Betreuer mit eigenen Verfolgungsbiografien.
Im Hinblick auf den zwischenzeitlich in anderen Bereichen (z. B.
durch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag) zur Vermeidung
einer »sekundären Viktimisierung« installierten Opferschutz besaß
der unbürokratische Einsatz der Zeugenbetreuung im Rahmen der
NS-Prozesse – »einschließlich Traumaarbeit, Rehabilitierung und
Reparationen« (S. 349) – durchaus eine Pionierrolle.
Hartmut Rübner
(1) Vgl. dazu Friesa Fastie (Hrsg.), Opferschutz im Strafverfahren,
2. Aufl., Opladen/Farmington Hills 2008.
(2) Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu
trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens (1967), 18. Aufl.,
München 1986, S. 24 f.