Rezension zu Bindung und Autonomie in der frühen Kindheit
Dr. med. Mabuse, Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe. Nr. 228, Juli/August 2017, 42. Jahrgang
Rezension von Brigitte Borrmann
Wer meint, alles über Bindung zu wissen, wird aller Voraussicht
nach beim Lesen dieses Buches überrascht sein. Es bietet
erstaunliche Einblicke in die Welt frühkindlichen Verhaltens. Jedes
Kapitel schließt mit einer prägnanten Zusammenfassung –
stufenförmig aufgebaute Übersichten erläutern Entwicklungsverläufe
der Stammes- und Kulturgeschichte sowie der
Individualentwicklung.
Im ersten Teil beschreibt Ursula Henzinger die Methoden der
vergleichenden Verhaltensforschung (Humanethologie) und lädt zu
einer wertungsfreien Beobachtung dessen ein, was zwischen Eltern
und Kindern in den ersten Jahren in verschiedenen Kulturen
passiert. Dabei geht es um Unterschiede und deren Auswirkungen,
aber vor allem auch um Kultur und Epochen übergreifende
Gemeinsamkeiten, ohne dass es dabei zu romantisierenden
Verallgemeinerungen kommt.
Im zweiten Teil, der gut zwei Drittel des Buches umfasst, wird im
Anschluss an einen Theorieteil zur Bindungstheorie und dessen
Erweiterung im Zürcher Modell die Nähe-Distanz-Regulierung in vier
Phasen von der Geburt bis zum Alter von vier Jahren beschrieben.
Der inhaltliche Fokus liegt auf dem spontanen, selbst gesteuerten
Sozialverhalten und den unglaublichen Kompetenzen von Säuglingen
und Kleinkindern. Genauso wie in anderen Settings zeigt sich auch
in der familiären Umgebung, dass sich gesundes und sozial
kompetentes Verhalten ohne Druck und ohne aufwendige
Motivationsmaßnahmen, die im Gegenteil oft eher kontraproduktiv
wirken, von selbst entfalten kann, wenn die Rahmenbedingungen gut
genug sind. Dabei muss nicht alles reibungslos verlaufen - Trotz-
und Aggressionserlebnisse gehören zur Persönlichkeitsreifung und
bieten für beide Seiten, Kinder und Eltern, Chancen zur
Weiterentwicklung. Neben anderen Faktoren ist Gelassenheit im
Umgang miteinander ein wesentliches Element guter familiärer
Rahmenbedingungen. Dieses Buch kann zu etwas mehr Gelassenheit
beitragen, indem es dabei hilft, kindliches Verhalten besser zu
verstehen und einzuordnen.
Im Geleitwort schreibt der Körperpsychotherapeut Thomas Harms:
»Ursula Henzinger verkörpert das, was sie in diesem Buch
beschreibt: den Glauben an die ungeheuren Wachstums- und
Entfaltungspotenziale von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen. Ihr
Blick ist stets auf das Gesunde gerichtet, auf das Mögliche und
das, was das Kind verwirklichen möchte.«
Diese Haltung zieht sich konsistent von der ersten bis zur letzten
Seite des Buches durch. Aus diesem Grund und wegen der gelungenen
Verknüpfung von wissenschaftlichen Modellen und anschaulichen, oft
liebevoll-lustigen Beispielen aus der humanethologischen
Feldforschung ist es allen zu empfehlen, die beruflich oder privat
mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben.
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