Rezension zu Traumapädagogik in der Schule
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Rezension von Barbara Neudecker
Thema
Traumatisierte und schwer belastete Kinder und Jugendliche stellen
eine Herausforderung an pädagogische Fachkräfte in
unterschiedlichen Handlungsfeldern dar. Traumapädagogische
Publikationen beschäftigen sich oft mit der Frage, wie diese Kinder
und Jugendlichen in Einrichtungen der Jugendhilfe gut betreut
werden können, aber selten mit dem schulischen Bereich und den
Kompetenzen, die Lehrkräfte für ihre Arbeit mit schwer belasteten
Kindern benötigen.
Autor
David Zimmermann ist Professor am Institut für
Rehabilitationswissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin
und leitet dort die Abteilung »Pädagogik bei psychosozialen
Beeinträchtigungen«. Zuvor war er an der Leibniz Universität
Hannover tätig. Darüber hinaus ist er Mitbegründer des Berliner
Instituts für Traumapädagogik.
Aufbau und Inhalt
Zu Beginn des Buches wird aufzeigt, in welch komplexen Kontext die
Arbeit mit beziehungstraumatisierten Kindern und Jugendlichen in
der Schule eingebettet ist. Dabei wird ein weiter Bogen gespannt
von schulischen Rahmenbedingungen, sozialer Benachteiligung von
Kindern und ihren Familien über die gegenwärtig zu beobachtende
Tendenz zur Optimierung von Kindheit und der Zunahme
psychiatrischer Diagnosen im Kindes- und Jugendalter bis zu
Aspekten der Professionalisierung pädagogischer Fachkräfte.
Pädagogische Institutionen und vor allem die Schule müssen einem
sich verändernden gesellschaftlichen Auftrag gerecht werden und
zunehmend auch korrektive Erfahrungen für Kinder und Jugendliche
übernehmen, die zuhause nicht oder nicht ausreichend möglich sind.
Dabei stellt der Umgang mit sozial-emotional belasteten Kindern
hohe Anforderungen an Lehrkräfte. Sie für diese Arbeit, wie es
häufig propagiert wird, durch Vermittlung von Fachwissen und
Handlungskonzepten qualifizieren zu wollen, greift zu kurz: »Die
Voraussetzung für tatsächliche Bildungs- und Entwicklungsarbeit
aber ist das Verstehen und die (trauma-)pädagogische Haltung, die
in der derzeitigen Ausbildung von Sozialpädagoginnen und -pädagogen
sowie von Lehrkräften eher randständig behandelt werden (.).«
(S. 11) Die Betonung der Bedeutung von Beziehungsarbeit und
Reflexiver Pädagogik durchzieht die Arbeit wie ein roter Faden.
Im zweiten Abschnitt wird der pädagogische Zugang zu
beziehungstraumatisierten Kindern in den Blick genommen. Zimmermann
verweist darauf, dass es für ein angemessenes pädagogisches
Verständnis dieser Kinder zum einen notwendig ist, ihre äußeren
Lebensbedingungen zu verstehen und zum anderen das innere Erleben
der Kinder, das in ihrem Verhalten zum Ausdruck kommt. Pädagogische
Arbeit ist dabei stets als Konfrontation mit fremden Erfahrungs-
und Erlebenswelten zu verstehen. Kinder mit sozial-emotionalen
Beeinträchtigungen werden je nach professionellem Zugang mit
unterschiedlichen Terminologien belegt, in Zusammenhang mit
schulischer Inklusion werden sie aber insgesamt politisch und
medial zu wenig berücksichtigt, obwohl die Zahl der Kinder mit
Förderschwerpunkt emotional-sozialer Entwicklung steigt. Es lässt
sich kein gemeinsames pädagogisches Verständnis dieser Kinder
ausmachen, und in der Praxis dominieren verhaltensmodifikatorische
Ansätze, die aber die Individualität der Kinder ausblenden. Das
Bedürfnis zu regulieren und zu disziplinieren lässt sich als
Reaktion auf unerträgliche Beziehungsdynamiken mit diesen Kindern
verstehen. Die Psychoanalytische Pädagogik hat in der Betrachtung
schwer belasteter Kinder mit der Traumapädagogik gemein, dass in
ihren Erklärungsmodellen auch die sozialen Rahmenbedingungen und
Organisationsstrukturen berücksichtigt werden und dass
Professionalisierung als kontinuierlicher Entwicklungsprozess von
Fachkräften, der Beziehungs- und Selbstreflexion fördert, zu
verstehen ist.
Im dritten Kapitel folgt eine kritische Auseinandersetzung mit
gängigen Ansätzen der Traumapädagogik, bei denen u.a. häufig
festzustellen ist, dass eine explizit pädagogische Perspektive
fehlt. Diese versucht die Psychoanalytische Pädagogik in der
Beschäftigung mit traumatisierten Kindern dadurch zu erreichen,
dass sie pädagogische Beziehungsprozesse in den Mittelpunkt rückt
und »Trauma« damit als (Zer-)Störung innerer und äußerer
Beziehungen versteht. Zimmermann greift das Konzept der
sequentiellen Traumatisierung auf und beschreibt damit, wie die
Häufung und Wiederholung von Ausschlüssen und Beziehungsabbrüchen
für Heranwachsende in pädagogischen Kontexten häufig traumatisches
Potential erhält.
Im vierten und fünften Kapitel wird ein traumapädagogisches
Forschungsprojekt der Leibniz Universität Hannover vorgestellt, in
dem mittels qualitativer Interviews mit pädagogischen Fachkräften
und Beobachtungen in den Schulen dazu geforscht wurde, wie sich
traumatische Erfahrungs- und Erlebensmuster in der pädagogischen
Interaktion und in institutionalisierten Handlungsabläufen
reinszenieren. Detailliert wird nachgezeichnet, wie Lehrkräfte über
beziehungstraumatisierte Kinder berichten, wie diese Schilderungen
Aufschlüsse über das innere Erleben der Pädagoginnen und Pädagogen
geben und wie dies in Verbindung mit dem Material aus den
Beobachtungen hilft, die Beziehungsdynamik zwischen den Kindern und
ihrer pädagogischen Umwelt und damit verbundene Abwehrmechanismen
zu verstehen. Vier »Interaktionsgeschichten« werden erzählt und
zentrale Themenfelder dieser Geschichten herausgearbeitet. Die
befragten Lehrkräfte arbeiten in Grundschulen und Schulen mit dem
Förderschwerpunkt soziale und emotionale Entwicklung.
Im 6. Kapitel werden fallübergreifende Themenfelder dargestellt
(z.B. »Bedrohliche Beziehungsgestaltung und Nicht-Integrierbarkeit
traumatischer Erfahrung« oder »Emotionale Belastung als
Bedingungsfeld von Grenzverletzungen in der pädagogischen
Interaktion«).
Der letzte Abschnitt behandelt die Evaluierung eines Teilbereichs
des Forschungsprojekts, für den Kurzfortbildungen für Lehrkräfte
angeboten wurden. Untersucht wurde, ob diese traumafokussierten
Fortbildungen zu beobachtbaren Veränderungen der Haltungen und
Verhaltensweisen der Teilnehmenden führten und ob die Lehrkräfte
sich dadurch im Umgang mit traumatisierten Heranwachsenden als
selbstwirksamer erlebten.
Diskussion
Das Buch hebt sich von anderen traumapädagogischen
Veröffentlichungen ab, indem nicht darauf abgezielt wird, das
Verhalten traumatisierter Kinder und Jugendlicher mit theoretischen
Erklärungsmodellen zu begründen, um darauf aufbauend praxisnahe
Handlungskonzepte zu präsentieren. Vielmehr wird anhand der
Interaktionsgeschichten deutlich gemacht, dass pädagogische
Beziehungen aus einer Vielzahl kleiner Interaktionen bestehen, die
dafür ausschlaggebend sind, ob diese Beziehung vom Kind als
hilfreich oder als belastend bzw. erneut traumatisierend erlebt
wird. Es ist bedrückend, festzustellen, dass auch engagierte
Pädagoginnen und Pädagogen nicht davor gefeit sind, in
Interaktionsdynamiken einzusteigen, die Kinder in ihren früheren
negativen Beziehungserfahrungen zusätzlich bestärken, statt sie zu
korrigieren. Es kommt zu verschiedenen Formen der Reinszenierung
und der inneren Abwehr bei den Lehrkräften: Grenzüberschreitungen,
Beziehungsabbrüche, Abspaltung von Emotionen, strafende und
ausgrenzende Impulse u.v.m.
Es ist einerseits Verdienst dieses Buches, den Blick für die
Bedeutung von alltäglichen Interaktionen zu schärfen, denn dieser
Blick geht oft verloren, wenn man sich bemüht, spezifisch
traumapädagogische Konzepte in der Praxis anzuwenden. Andererseits
könnte dies auch zu Verunsicherung bei manchen Leserinnen und
Lesern führen: Da die Verbesserung der Fähigkeit, die
Beziehungsgestaltung zu Schülerinnen und Schülern im pädagogischen
Umgang und den eigenen Anteil daran genau zu reflektieren und
Interventionen darauf abzustimmen nicht durch ein Handbuch, sondern
nur durch einen persönlichen Entwicklungsprozess ermöglicht werden
kann, erhöht die Lektüre des Buches zwar das Problembewusstsein, es
kann – und will es vermutlich auch nicht – aber keine raschen
Lösungsvorschläge anbieten.
All dies unterstreicht die Forderung des Autors nach der Förderung
von reflexiver Kompetenz und Beziehungsarbeit im schulischen
Bereich.
So aufschlussreich die tiefenhermeneutische Interpretation der
Interviews, durch die auch die Auswertung latenten Sinngehalts
ermöglicht wird, ist, so wären doch einige Anmerkungen dazu
hilfreich, wie mit der Veröffentlichung des Interviewmaterials vom
Forschungsteam in Hinblick auf die interviewten Personen umgegangen
wurde. Man gewinnt den Eindruck, dass den befragten Personen
möglicherweise nicht immer bewusst war, welche Aspekte des
Gesprächsmaterials auf welche Weise zur Auswertung herangezogen
werden, sodass sie sich durch die Interpretation des Materials und
die Veröffentlichung dieser Überlegungen auch bloßgestellt fühlen
könnten. Gerade beim Thema Traumatisierung ist es für LeserInnen
wichtig zu wissen, welche Vorkehrungen vom Forscherteam getroffen
wurden, um einen achtsamen, Grenzen respektierenden Umgang auch im
Forschungsprozess wahren zu können.
Fazit
»Traumapädagogik in der Schule« schließt eine Lücke im bestehenden
traumapädagogischen Angebot, indem der Fokus nicht auf die
Vermittlung handlungsleitender Konzepte gelegt, sondern die
pädagogische Interaktion in den Blick genommen wird und
pädagogische Fachkräfte dafür sensibilisiert werden, welche
Beziehungserfahrungen traumatisierte Kinder kontinuierlich im
pädagogischen Alltag mit ihren Pädagoginnen und Pädagogen machen,
die ausschlaggebend dafür sind, ob diese Beziehung für ein Kind
förderlich oder retraumatisierend ist. Es ist zu hoffen, dass die
Erkenntnisse dieses Buches Eingang in den traumapädagogischen
Diskurs finden werden und diesen ergänzen.
Rezensentin
Mag.a Barbara Neudecker
Psychotherapeutin und psychoanalytisch-pädagogische
Erziehungsberaterin, Leiterin der Fachstelle für Prozessbegleitung
für Kinder und Jugendliche in Wien, Lehrbeauftragte an der
Universität Wien, eigene Praxis
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