Rezension zu Männlichkeit, Sexualität, Aggression
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Rezension von Angela Schmidt-Bernhardt
Thema
Thema des Buches ist die männliche Identitätsbildung im aktuellen
gesellschaftspolitischen Kontext aus psychoanalytischer
Perspektive.
In der aktuellen gesellschaftlichen Situation in den westlichen
Industrieländern ist von einer Krise traditioneller männlicher
Identitätsbildung die Rede. Ursachen hierfür sind in den
technologischen Umwälzungen, in der Ökonomisierung aller
Lebensbereiche und in der gendertheoretisch begründeten
Infragestellung der traditionellen Geschlechteraufteilung zu
suchen.
Eine mit der Infragestellung der traditionellen Geschlechterrollen
verbundene Verunsicherung ist vielfach zu beobachten. Die
globalisierte Gesellschaft stellt das für die Identitätsbildung
hilfreiche Gerüst von Nation, Religion, Geschlecht, Familie in
Frage.
Als Antwort auf die Unübersichtlichkeit der postmodernen
Gesellschaft lassen sich Phänomene erklären wie die Rückkehr zu
traditionellen Identitätsmustern, eine unsublimierte Aggressivität
und letztlich auch die terroristische Bekämpfung des westlichen
Demokratieverständnisses begleitet von einem archaischen
Männlichkeitsprinzip.
Die in dem Band veröffentlichten Beiträge analysieren Männlichkeit
in unterschiedlichen Phasen der männlichen Entwicklung.
Ausgangspunkt des psychoanalytischen Verständnisses von
Identitätsbildung ist das Zusammenwirken von biologischen
Eigenheiten des Geschlechts und von an das Kind durch seine
Umgebung herangetragenen Geschlechtermodellen.
Entstehungshintergrund
Elf Autorinnen und Autoren beleuchten jeweils unterschiedliche
Aspekte der Thematik aus theoretischer und klinischer Sicht. Einige
der im Buch gebündelten Texte sind auf den Tagungen zur
»Psychoanalyse des Jungen und des Mannes«, die von Frank Dammasch,
Hans-Geert Metzger und Josef Christian Aigner alle zwei Jahre in
Obergurgl/Tirol veranstaltet werden, vorgetragen worden.
Aufbau und Inhalt
Josef Christian Aigner betont die Notwendigkeit von
psychoanalytischen Studien zur männlichen Entwicklung, gerade weil
in der Freud´schen Tradition die männliche Entwicklung und die
menschliche gleichgesetzt wurden. In der Folge ist viel über
weibliche Entwicklung geforscht worden, die männliche Identität
hingegen droht zum dunklen Kontinent zu geraten. Hier gilt es
jenseits des Konstruktivismus ein differenziertes Bild von
Mann-Sein zu entwerfen. Aigner argumentiert vehement gegen den
radikalen Konstruktivismus: »Die Existenz zweier körperlich in
großer Mehrheit unterschiedener Geschlechter aber grundlegend zu
negieren und sie generalisierend als Ausgangspunkt von Herrschaft
des männlichen über das weibliche Geschlecht anzusehen, die
beseitigt gehört, ist selbst eine Konstruktion.« (Aigner, S. 25).
Aigner plädiert vielmehr dafür, sich auf die unterschiedlichen
Voraussetzungen, die der Biologie des Männlichen und des Weiblichen
entstammen, so etwa das Gebären, zu beziehen, ihre jeweils
unterschiedliche Gestaltung in den jeweiligen sozialen
Verhältnissen zu betrachten und die sich daraus ergebenden
Emotionen wie Neid und Beherrschungswünsche zu verstehen. Ausgehend
von einer körperlichen Zweigeschlechtlichkeit, ist – so Aigner –
das, was man den Jungen aus seiner Anatomie machen lässt, für sein
Mann-Sein ausschlaggebend.
Simone Korff Sausse behandelt das Thema ›Das Vaterwerden in Familie
und Gesellschaft heute‹. Da die Vorstellungen von Männlichkeit sich
sowohl im kollektiven Unbewussten als auch in Arbeitswelt und
Familie verändern, ist auch die Vaterschaft in Veränderung
begriffen. Korff Sausse betont, dass im Gegensatz zur Mutterschaft
in all ihren Facetten bislang Studien zur Vaterschaft rar sind. Die
Autorin stellt die Hypothese auf, dass sich das Vaterwerden auf
folgende drei psychische Dimensionen auswirkt: Es bringt das
Infantil-Sexuelle des Mannes ins Spiel; es bringt das
Weibliche/Mütterliche ins Spiel; es bringt die Identifizierung des
Vaters mit seinem eigenen Vater – auch mit dessen weiblichen
Anteilen – ins Spiel. Die Beziehung zum Kind, die Korff Sausse als
äußerst ambivalent charakterisiert, ist – anders als die Beziehung
der Mutter zum Kind – wenig untersucht worden. Die Psychoanalyse
steht – so Korff Sausse – vor der Herausforderung, das Vater-Thema
neu zu durchdenken.
Auch Hans-Geert Metzger beschäftigt sich mit dem Thema Vaterschaft.
Er skizziert anhand der Biographie Eric Claptons mögliche Probleme
eines vaterlos aufgewachsenen Jungen. Aus der Erfahrung des
abwesenden Vaters entwickelt er Elemente einer ausreichend guten
Bevaterung, aber auch Stationen des Scheiterns in der Vater-Sohn
Beziehung.
Heribert Blaß befasst sich ausgehend von der Rezeption seiner
psychoanalytischen Behandlungen mit der Bedeutung der Sexualität
für die Identitätsentwicklung. Dieter Bürgin wirft einen Blick auf
die Entwicklungsphase Adoleszenz und das Spannungsfeld zwischen
Autonomie und Abhängigkeit.
Frank Dammasch erläutert an einem Beispiel aus seiner
kinderpsychotherapeutischen Praxis, wie im Kindesalter
aggressiv-destruktives Verhalten als Folge einer Traumatisierung
behandelt werden kann. Intensiv setzt sich der Autor mit dem
aggressiv-impulsiven Verhalten des Jungen und mit seiner
Gegenübertragung auseinander und begreift das Verhalten als
Umwandlung von passiv erlebten Ohnmachtsgefühlen in aktiv
ausgelebte Omnipotenz. Das Verstehen des Jungen nutzt er, um die
psychodynamischen Abläufe von jungen Männern, die zu islamischen
Gotteskriegern werden, zu begreifen.
Mit den Auswirkungen der Reproduktionsmedizin auf die Beziehungen
zwischen den Eltern und insbesondere auf die pränatalen Beziehungen
mit dem Embryo befasst sich Ute Auhagen-Stephanos. Aus
therapeutischer Perspektive beleuchtet sie ihre Erfahrungen mit dem
Mutter-Embryo-Dialog.
In dem Beitrag von Mohammad Reza Davami geht es um die
psychotherapeutische Behandlung eines moslemischen Patienten, der
transgenerational in eine belastete Vater-Sohn Beziehung verstrickt
ist, die die Wurzel eines hohen Aggressionspotentials ist. Der
Autor skizziert den Therapieverlauf, in dem deutlich wird, dass die
kulturelle Verbundenheit und Vertrautheit zwischen Therapeut und
Patient eine wesentliche positive Rolle spielen.
Weitere Beiträge, die neuere psychoanalytische Theorieansätze
berücksichtigen, sind die von Michael Diamond, von Hans Hopf, Peter
Fonagy und Hans-Geert Metzger.
Diskussion
Der vorliegende Sammelband ist äußerst lesenswert, da die in ihm
enthaltenen Aufsätze Wege zu einem bislang wenig beachteten Thema
weisen, nämlich der Beschäftigung mit den Veränderungen von
Männlichkeit und Mann-Sein und mit im Wandel begriffenen männlichen
Identitätskonzepten im angehenden 21. Jahrhundert aus Sicht der
Psychoanalyse.
Die Beiträge zeichnen sich insbesondere durch ihre differenzierte
Sicht auf viele mit Männlichkeit verbundene Aspekte aus.
Angesprochen werden aus psychoanalytischer Sicht die Veränderungen
des Mann-Seins in der globalisierten postmodernen Welt, wie sie in
Vater-Sohn-Beziehungen und in der Gestaltung von Vaterschaft
sichtbar werden; angesprochen wird auch die mit der
Reproduktionsmedizin verbundene veränderte Sexualität; ein Beitrag
befasst sich mit der männlichen Identitätsentwicklung im
interkulturellen Kontext. An dieser Stelle sei auf eine Schwäche
des Sammelbandes hingewiesen: In der zusammenwachsenden globalen
Welt entsteht ein großer Informations- und Diskussionsbedarf über
kulturübergreifende und kulturspezifische Aspekte in der Debatte um
Vaterbilder, männliche Identitäten und Vater-Sohn-Beziehungen.
Diesen Aspekten hätte mehr Raum zur Vertiefung gegeben werden
können.
Fazit
Insgesamt handelt es sich um eine gelungene Mischung von
theoretisch fundierten Texten mit anschaulichen Fallvignetten. Die
Lücke in der Beschäftigung mit der Thematik der sich verändernden
männlichen Geschlechtsidentität wird ein wenig kleiner; zudem regt
der Band sowohl Laien als auch das Fachpublikum zur weiteren
Debatte über die veränderten Geschlechtsidentitäten und
Geschlechterbeziehungen ein.
Rezensentin
Angela Schmidt-Bernhardt
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