Rezension zu Grenzen und Chancen der modernisierten Geschlechterordnung (PDF-E-Book)
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Rezension von Bettina Zehetner
Stefanie Göweils Reflexionen über die individualisierte
Geschlechterordnung in ihren Grenzen und Chancen sind beeindruckend
– sowohl auf der philosophisch-theoretischen Ebene als auch in
ihrer schul- und lebenspraktischen Relevanz. Die Autorin verbindet
ihre Leidenschaft und ihren Intellekt zu aussagekräftigen
sprachlichen Bildern und behält immer auch die politische Seite von
Theorie und Praxis im Blick. Die Einbettung in den
wissenschaftlichen Diskurs ist überaus lebendig und materialreich
reflektiert.
»Die besondere Sozialität, die zum körperlichen Leben, zum
sexuellen Leben und zur Ausformung eines Geschlechts gehört (ein
Geschlecht, das stets in einem gewissen Maße für andere gebildet
wird), begründet ein Feld der ethischen Verstrickung mit anderen
und ein Gefühl der Orientierungslosigkeit für die erste Person, das
heißt die Perspektive des Egos. Als Körper sind wir immer auf etwas
mehr und auf anderes aus als uns selbst.« (Judith Butler: Die Macht
der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen,
Frankfurt/M. 2009, S. 47)
Geschlecht wurde in der Philosophie ignoriert, verleugnet,
abgespalten, projiziert, dämonisiert, idealisiert, aufgelöst und
vervielfältigt. Nach Gleichheits- und Differenztheorien sind wir
nun bei der Dekonstruktion von ›sex‹ und ›gender‹ und beim
flexibilisierten Gender als optimal ausschöpfbarem Humankapital
angekommen. Die Falle der rhetorischen Gleichheit wird von der
Autorin kenntnis- und materialreich entlarvt als Wiederkehr
konservativer Geschlechternormen, der vermeintlich
geschlechtsneutrale Neoliberalismus erweist sich mit seinen
Regulierungen als Beförderer scheinbar längst überholter dichotomer
Asymmetrien. In einer Zeit, in der feministisches Denken und
feministische Forderungen wieder als anstößig gelten, hat Stefanie
Göweil ein sprachlich brillantes, inhaltlich herausforderndes Werk
verfasst. Sie fordert uns auf, die Herausforderung anzunehmen,
Geschlecht in seiner Ambivalenz und Unfassbarkeit neu zu denken,
mit der Perspektive auf unsere grundlegende menschliche
Mangelhaftigkeit immer wieder neu zu befragen und Zweifel und
Irritationen Raum zu geben. Die vorliegende Arbeit bietet damit
auch Inspiration, wie die Mündigkeit von Schüler_innen im
Unterricht entwickelt und gefördert werden kann und welch zentrale
Rolle hier die Selbstreflexion und (selbst)kritische Haltung der
Lehrpersonen einnimmt.
Der stringente Aufbau umfasst die Diskussion des Konzepts
Selbstkannibalismus zwischen immer schon in souveräner
Subjektivität angelegter Struktur und neoliberalem Novum, die
Entsubjektivierung als ethisches Commitment und
emanzipatorisch-politische Praxis auf der Folie Foucaultscher
Bio-Politik sowie das performative Potenzial des Ethischen und
führt über die Prinzipien psychoanalytischer und kritischer
Pädagogik mit einer Konfrontation von Judith Butler und Luce
Irigaray zur Kultivierung sexueller Differenz und ihrer Bedeutung
für die schulische Praxis. Stefanie Göweils Gedanken zum
Selbstkannibalismus junger Frauen und zur Ambivalenz der
Getriebenheit durch beständige Selbstoptimierung sind höchst
originell, treffend und anregend ausgearbeitet. Auch die Kritik an
der Wahlsemantik, als wäre das bloße Auswählen-Können aus
vorgefertigten Entweder – Oder - Optionen schon Freiheit, ist gut
auf den Punkt gebracht und schließt an aktuell brisante Diskurse
eines gesellschaftspolitischen backlash an: als wäre das
Wählen-Können zwischen Zuhause-beim-Kind-Bleiben oder Karriere zu
machen auch nur annähernd Freiheit. Auch die historisch bedingte
besondere Ambivalenz weiblicher und feministischer Solidarität
macht die Autorin in all ihrer Komplexität sichtbar. Dies ist
gleichzeitig ein Plädoyer gegen das hegemoniale Paradigma, die
Individualisierung der Geschlechterordnung und die mangelnde
politische Solidarisierung wäre ein individualpsychologisches
Problem und nicht etwa einer soziostrukturellen Leerstelle im
gegenwärtigen Diskurs geschuldet, indem Soziales, Gemeinschaft usw.
meist nur als Verlorenes oder Überholtes in den Blick gerät.
Zur Ausgangsthese: Im neoliberalen Imperativ, Unternehmer seiner
selbst zu sein wird dem Subjekt eine Handlungsfähigkeit
unterstellt, die es mit Beginn der Postmoderne verloren hat. Judith
Butlers dekonstruktivistische Thesen zur Geschlechter- und
Subjektkonstruktion bieten die Basis einer möglichen Konzeption
einer postsouveränen Subjektivität, die die menschliche
Verletzlichkeit und Interdependenz in den Mittelpunkt des Prozesses
der Menschwerdung rückt. Ihr Verständnis von Konstruktion und
Handlungsmacht sowie die Relevanz von sprachlichen Bezeichnungen
und Performativität nützt Stefanie Göweil für ihre genaue Analyse,
wie gerade die aktuelle Dethematisierung und Individualisierung von
Geschlecht Geschlechterasymmetrien und -hierarchien erneut
gewaltvoll zementiert und Handlungsfreiheit einschränkt. Einen
Ausweg aus diesem Dilemma, an dem Frauen ebenso mitwirken wie
Männer (vgl. die Mittäterschaftsthese Christina Thürmer-Rohrs),
könnte ein Blickwechsel dienen: Die perspektivische Veränderung auf
die Begrenztheit des Ich von einem Defizit zu einem Modus des
Bezugs zwischen Subjekten. Im Schulischen könnte dies eine
demokratisch und gerecht gestaltete Geschlechterbewusstheit
bedeuten, bei der es darum geht, das Für-Sich und Für-Andere-Sein
der menschlichen Existenz im gegenseitigen
Aufeinander-Angewiesensein zu bearbeiten. Aus diesem
gemeinschaftlichen Prozess kann sich die Basis eines neuen
Verständnisses von Identität und Solidarität entwickeln – das
Bedürfnis nach Besonderheit mit der Fähigkeit zur Besorgnis zu
verbinden und so eine Subjektivität zu entwickeln, welche die
Ambivalenz zwischen Freiheit und Abhängigkeit, zwischen
Für-Sich-Sein und Für-Andere-Sein ertragen, aushalten kann.
Es steht also nicht ein substanzielles Subjekt im Mittelpunkt der
Konstitution, sondern vielmehr das Fehlen prädiskursiver
Substantialität, ein ›Mangel‹ an Substanz. Daraus resultiert die
Betonung des phantasmatischen Gehalts jeder Subjekt- und
Geschlechtsidentität, derzufolge jeder Versuch, Identität zu
erlangen, notwendig scheitern muss. Subjekt- und
Geschlechtsidentität dienen somit in erster Linie dazu, einen
Mangel zu verdecken, sie sind um einen Bereich des Verworfenen
herum konstituiert, was die Ausbildung einer reaktionären-reaktiven
Subjektivität begünstigt, in der das eigene Selbst und der eigene
Selbstwert sich zu erheblichen Teilen aus der Negation und
Inkorporierung bzw. ›kannibalischen‹ Einverleibung des_der Anderen
ableiten. Das Subjekt wird nicht widerstandslos zu einem Effekt der
Macht, sondern gerade in seiner Opposition gegen die Macht geformt.
Eine tiefgreifende Verschränkung mit der Macht findet dort statt,
wo das Subjekt sich gegen die Macht wehrt, welche zugleich seine
eigene Entstehungsbedingung ist. Ein Ausweg aus der Naturalisierung
und Substantialisierung der Geschlechterdifferenz wird darum nur
durch die Dezentrierung des Subjekts möglich. Die Grenze und
Begrenzung des Ichs muss von einem Defizit zu einem Modus des
Bezugs zwischen Subjekten werden und damit zu einer produktiven
Quelle für die Entwicklung neuer symbolischer Ordnungen in der
Welt.
Die vorliegende Arbeit widmet sich einer Leerstelle innerhalb der
wissenschaftlichen Behandlung der Themenbereiche Schule und
Geschlecht. Ihr Ziel ist nicht Geschlechtsneutralität, wie
banalisierendes Gender-Mainstreaming als bloße
Verwaltungsstrategien oft nahe legen, sondern eine demokratisch und
gerecht gestaltete Geschlechterbewusstheit. Dabei wird hier
Geschlecht nicht auf soziale Rollenerwartungen und bloße
Normaneignung reduziert, sondern als gesellschaftliche und
existenzielle Anforderung an Subjekte betrachtet. Schule ist nicht
nur ein System, sondern immer auch ein psychischer Raum.
Geschlechtlichkeit wird als Aufgabe deutlich, die grundlegende
Tatsache menschlicher Begrenztheit zu bewältigen. Das Subjekt ist
durch eine grundlegende Beziehung zur Alterität gekennzeichnet. Ich
»bin« nicht einfach ein Geschlecht und »habe«“ nicht einfach eine
Sexualität, sondern Geschlecht und Geschlechtsidentität werden
stets in Interaktion mit anderen und somit auch für andere
gebildet. Begehren und Trauer sind nur möglich durch Offenheit auf
die/den Andere/n hin sowie Offenheit für eine Transformation des
Selbst. Unsere Beziehungen begründen uns nicht nur, sie enteignen
uns auch. Diese unabschließbare Sozialisierung bedeutet die
ekstatische Verfassung des geschlechtlichen Subjekts, eine radikale
Intersubjektivität und Gebundenheit ohne eindeutige Abgrenzbarkeit
zwischen Selbst und Anderen. Die Affirmation dieser Ausgesetztheit
kann mit ihrer positiven Wendung als Ansprechbarkeit
(responsiveness) die Basis einer Ethik prekären Lebens bilden. Die
offene Frage: »Wer bist Du?« soll immer wieder gestellt werden,
ohne eine abschließende Antwort zu erwarten. Das fortgesetzte
Interesse am Anderen und das Begehren nach Anerkennung bleiben das
Ziel, ohne in der Feststellung »jetzt weiß ich, wer du bist« zum
Schweigen gebracht zu werden (vgl. Judith Butler: Kritik der
ethischen Gewalt, Frankfurt/M. 2003, S. 57). Eine neue Ethik könnte
bedeuten, »dass man sich diesem primären Ausgesetztsein vor dem
Anderen nicht verschließt und erlittenes Leid nicht in
Rechtfertigung für neue Gewalt umwandelt (…) sondern statt dessen
eben die Unerträglichkeit des Ausgesetztseins als Zeichen einer
geteilten Verletzlichkeit, einer gemeinsamen Körperlichkeit, eines
geteilten Risikos begreift. (…) Vielleicht liegt unsere Chance,
menschlich zu werden, gerade in der Art und Weise, wie wir auf
Verletzungen reagieren.« (a.a.O., 100f.).
Neben der differenzierten theoretischen Bearbeitung dieser
existenziellen Thematik zeigt Stefanie Göweil ganz konkrete
Möglichkeiten für die Unterrichtspraxis auf, das Für-Sich und
Für-Andere-Sein der menschlichen Existenz in gemeinschaftlicher
Anstrengung zu bearbeiten. Dies ist umso notwendiger, je stärker
naturalistische Fehlschlüsse in aktuellen Diskursen wieder mehr und
mehr Raum einnehmen, etwa in der Vorstellung von Biologie als
Schicksal oder der »Gehirnmythologie« (Sigrid Schmitz) der
Neurowissenschaften. Die Arbeit stellt darüber hinaus auch eine
produktive, im besten Sinn provokante und herausfordernde Antwort
auf Ergebnisse der empirischen Schulforschung dar, die ein
Auseinanderklaffen des Selbstwerts bei Mädchen und Jungen mit
einsetzender Pubertät feststellen. Sie bietet ein Kontrastprogramm
zum mittlerweile hegemonialen Diskurs um ›Jungen als
Bildungsverlierer‹, dem Vorwurf der ›Feminisierung‹ des
Bildungssystems und dem Wiederaufleben von Differenzannahmen.
Fazit: Das vorliegende Werk zeichnet sich durch klare
Argumentation, beeindruckende Eloquenz, Materialreichtum und enorme
inter- und transdisziplinäre Vielfalt aus. Das Theorieverständnis
bewegt sich auf einem sehr hohen Niveau und gleichzeitig wird die
gut durchdachte Vermittelbarkeit und die konkrete Relevanz für den
schulischen Alltag deutlich. Stefanie Göweil entwickelt in ihrer
Arbeit einen konstruktiv-kritischen Umgang mit der Kategorie
Geschlecht in der Philosophie und in der schulischen
Unterrichtspraxis. Besonders bemerkenswert ist die lebendige
Verbindung von Theorie und Praxis anhand der Themenkomplexe Körper
und Sprache, Geschlecht und Macht im konkreten Feld der
Unterrichtspraxis. Der Autorin gelingt es, überaus komplexe
Theorien spannend, anschaulich und zugänglich aufzubereiten – eine
überaus anregende Lektüre für alle im pädagogischen,
philosophischen und geschlechterpolitischen Bereich Tätigen.
Bettina Zehetner, Frauen* beraten Frauen*. Institut für
frauenspezifische Sozialforschung Wien
www.frauenberatenfrauen.at