Rezension zu Migration im Jugendalter (PDF-E-Book)
PÄDAGOGIK, 69. Jahrgang, Heft 6, 2017
Rezension von Andrea Gergen
Lesen Sie hier Ausschnitte aus der Sammelrezension von Andrea
Gergen:
Flucht und Migration
Nur wenige Themen haben Lehrerinnen und Lehrer in den letzten
beiden Jahren so intensiv beschäftigt wie die Integration von
Jugendlichen mit Fluchterfahrung in das deutsche Bildungssystem.
Auf politischer Seite steht vor allem die Vermittlung von
Deutschkenntnissen in »Integrationsklassen« und die Gestaltung von
sprachsensiblem Unterricht im Mittelpunkt des Interesses. Ein
möglichst reibungsloser Übergang in allgemeinbildende Schulen bzw.
in den deutschen Arbeitsmarkt sollen damit garantiert werden. Die
pädagogische Praxis ist jedoch durch sehr viel mehr Fragen
bestimmt. Lehrpersonen sehen sich im Umgang mit jugendlichen
Flüchtlingen mit zahlreichen psychosozialen Herausforderungen
konfrontiert und fühlen sich oft unzureichend auf den Umgang mit
traumatisierten Schülerinnen und Schülern vorbereitet.
Hilfreich erscheint angesichts dieser unerwartet eingetretenen
Situation eine Rückbesinnung auf die seit etwa fünfzehn Jahren
existierende, im pädagogischen Diskurs aber vernachlässigte
Migrationspädagogik. Außerdem existiert im Rahmen der
Freiwilligenarbeit eine Fülle von Projektideen zur kulturellen
Flüchtlingsarbeit, welche gebündelt und auf ihre Anschlussfähigkeit
in Bezug auf die Kooperation mit schulischen und kulturellen
Bildungsträgern überprüft werden kann. In der Rezension werden
anknüpfend an diese Diskurse entsprechende Neuerscheinungen
vorgestellt, die eine Unterstützung im pädagogischen Alltag sein
können.
(...)
Christine Bär liefert mit ihrer Studie »Migration im Jugendalter«
eine Untersuchung zu psychosozialen Herausforderungen zwischen
Trennung, Trauma und Bildungsaufstieg im deutschen Schulsystem. Vor
dem Hintergrund eines ethnopsychoanalytischen Forschungsansatzes
untersucht sie Lebens- und Aufenthaltsbedingungen sowie die
erfolgreiche Verarbeitung von Trennungserfahrungen von
Flüchtlingskindern in Deutschland. Im theoretischen Teil ihrer
Studie gibt die Autorin einen Überblick über Erklärungsmodelle zu
globalen Migrationsbewegungen, über psychoanalytische Perspektiven
auf Verarbeitungsprozesse in der Migration und zeigt Möglichkeiten
der Identitätsentwicklung immigrierter Jugendlicher auf. Dabei
nimmt sie drei Gruppen jugendlicher Migranten in den Fokus ihrer
Untersuchung zu Trennungserfahrungen: Die im Rahmen von
Arbeitsmigration im Herkunftsland zurückgelassenen und später nach
Deutschland »nachgeholten« Jugendlichen, die teilmigrierten
»Parachute Kids«, die zum Zweck des Aufstiegs von ihren Eltern
»verschickt« werden und die unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlinge, die sich den Fluchterfahrungen und
Aufenthaltsbedingungen in Deutschland allein stellen müssen. Anhand
von drei Fallanalysen gibt die Autorin einen Einblick in die
emotionalen und kognitiven Entwicklungsprozesse von durch
Bildungsaufstieg gekennzeichneten Biografien. Darüber hinaus
rekonstruiert sie schulische Eingliederungsmaßnahmen für neu
zugewanderte Jugendliche. Immer wieder stellt sie
Zwischenbetrachtungen zu den schulischen Implikationen ihrer
Ergebnisse an, indem sie z.B. die Unterschiede zwischen männlicher
und weiblicher Identitätsentwicklung unter Migrationsbedingungen
erläutert und diesbezügliche Herausforderungen für deutsche
Lehrpersonen im Umgang mit migrierten Jugendlichen formuliert. In
ihrem abschließenden Kapitel fasst Bär schulische
Eingliederungsmaßnahmen für neu zugewanderte Jugendliche in
Deutschland zusammen und analysiert sie kritisch im Hinblick auf
die damit verbundenen psychosozialen Herausforderungen im deutschen
Schulsystem.
Dieser Band sei Lehrerinnen und Lehrern ans Herz gelegt, die auf
empirisch fundierter Basis einen umfassenden Einblick in die
Entwicklungsprozesse migrierter Jugendlichen in Deutschland
bekommen möchten. Die Studie ist auch für die schulische Praxis
eine unbedingt empfehlenswerte Lektüre, da die Autorin die
Gratwanderung zwischen theoretischer Analyse und Praxisbezug mit
bemerkenswerter Leichtigkeit bewältigt.
(...)