Rezension zu Das lebendige Gefüge der Gruppe
perspektive mediation. Beiträge zur Konfliktkultur. Ausgabe 2-2017, 14. Jahrgang
Rezension von Sabine Zurmühl
Der Band stellt Aufsätze sowie Originalbeiträge des legendären
österreichischen Nestors der Gruppendynamik, Raoul Schindler, vor.
Weggefährten, Schülerinnen und Mitarbeiterinnen Schindlers rücken
nach dessen Tod 2014 seine Bedeutung für die Idee der
Gruppendynamik sowie die daraus sich entwickelnden weiteren Ansätze
psychologischen Arbeitens neu ins Bewußtsein.
Der lange Jahre als Primarius am Psychiatrischen Krankenhaus der
Stadt Wien sowie als Hochschullehrer tätige Arzt und
Psychoanalytiker Raoul Schindler hat ein breit gefächertes Themen-
und Anwendungsfeld hinterlassen. So reicht der Bogen vom 1954
gegründeten »Wiener Arbeitskreis für Tiefenpsychologie« über die
Gründung des ÖAGG (Österreichischer Arbeitskreis für
Gruppentherapie und Gruppendynamik) bis hin zu Dutzenden einzelner
Initiativen, Beratungsstellen, theoretischen Arbeitsgruppen und,
ja, auch hin zur Mediation und Konfliktberatung in Wien ab 1990.
Nicht zufällig beschäftigte sich Schindler, Jahrgang 1923, als
Angehöriger der Kriegsgeneration ausführlich mit der
Nachkriegssituation. »Die Psychiatrie musste sich erst vom
nachhängenden Ruf der wissenschaftlichen Euthanasie befreien und
die Psychotherapie vom erzwungenen Exodus der Psychoanalytiker«,
schrieb Schindler. Als junger Arzt beschäftigte er sich
insbesondere mit der Heimkehrerproblematik, die für viele
Betroffene nach dem Krieg Anlass und Notwendigkeit für psychische
Hilfe mit sich brachte.
Zu einem Schlüsselbegriff der Arbeit Schindlers wurde sein
Gruppenmodell, »das die organisierende Bewegung beschreibt, die zu
einer gemeinsamen Identität der Gruppe führt, deren Außergrenzen
bestimmt und (...) eine innere Rangordnung herstellt.« Die
»Rangdynamik« Schindlers entdeckte für Gruppen das Ordnungsprinzip
der Beteiligten von der Alpha-Position hin zum Letzten in der
Reihe, dem Omega, dem, nach Auskunft seiner Schülerinnen,
insbesondere das Herz und Interesse Schindlers gegolten habe.
Es lohnt auch, sich vor Augen zu führen, welche damals aktuellen
sozialen Bewegungen und Diskussionen für die Entwicklung des
Blickes auf die Gruppe eine Rolle spielten: die antiautoritäre
Bewegung, die Antipsychiatrie und die Encounter-Bewegung. Die
Gruppe als begehrte Form der Gesellung und Familienersatz, als
neuer Weg zu auch einer besseren Gesellschaft. Die Aspekte der
Gruppendynamik noch einmal in ihrer Entfaltung und hohen
Genauigkeit nachlesen zu können, ist das Verdienst dieses Bandes
und lohnend für alle, die es in Mediation, Beratung, Therapie mit
Gruppenprozessen zu tun bekommen. Vielleicht aber ebenso auch unter
dem Aspekt der eigenen professionellen und biographischen
Entwicklung.
Im letzten Teil des Bandes zeigen Berichte und Protokolle der jetzt
in der Nachfolge Raoul Schindlers tätigen Therapeuteninnen dessen
große Wirkung auch für das aktuelle Selbstverständnis der
betreffenden Professionen. Die Verdienste dieser ersten Lehrer und
Lehrerinnen liebevoll, respektvoll und immer noch von Neugierde
getragen vorzustellen, bleibt eine aktuelle historische Anregung
für viele impulsgebende Felder unserer Profession, die ja immer von
konkreten Menschen getragen und vermittelt werden.