Rezension zu Bindung und Autonomie in der frühen Kindheit
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Rezension von Sibylle Duelli
Ein faszinierender Beitrag zur Bindungsforschung,
30. Mai 2017
In rund 450 Seiten packt Ursula Henzinger ihre über 30-jährige
Forschungsarbeit zum Bindungsverhalten und ihren Erfahrungsschatz:
komprimiert, klar strukturiert und sprachlich mit großer Sorgfalt
dargestellt.
Sie kombiniert die Wissenschafts- und Forschungsebene mit einer
riesigen Fülle an eigenen Beobachtungen aus Mutter-Kind-Gruppen. Im
ersten der beiden großen Teile des Bandes stellt sie die
humanethologische Feldforschung vor, verbindet das Aufkommen der
Bindungsforschung mit den Erkenntnissen aus der Primatenforschung
und den ethologischen Studien traditioneller
Gesellschaftsstrukturen. Wer als Pädagoge, Therapeut oder Erzieher
einen gelungenen und verständlichen Einblick in die Entwicklung und
das Thema Bindungsforschung sucht, findet hier einen einmaligen
Überblick.
Im zweiten Teil öffnet Ursula Henzinger ihre Schatztruhe an
Praxiserfahrungen. Das Besondere daran: Sie schildert die ganz
spontanen, natürlichen Interaktionen und Situationen im Alltag
zwischen Eltern und Kindern und zwischen Kindern unterschiedlicher
Altersgruppen und – es wird hier nicht pathologisiert, sondern das
festgehalten, was aus einer achtsamen und wertfreien Haltung heraus
beobachtbar wurde.
Die Beobachtungen erstrecken sich vom ersten Lebensmonat bis ins
fünfte Lebensjahr. Das Grundthema ist das Pulsieren zwischen Nähe
und Distanz, zwischen Bindung und Autonomie, das die Beziehungen
zwischen Eltern und Kind und Geschwister immer wieder neu
herausfordert. Hier entdeckt die Autorin spezifische Muster, die
Aussagen über die sozialen Leistungen von Kindern zulassen. Sie
zeigt in einem roten Faden durch alle Entwicklungsphasen: Nur indem
beide Pole gleichberechtigt werden, kann Beziehung gelingen und das
Kind sozial und emotional kompetentes Verhalten ausbilden.
Dem Buch wünsche ich, obwohl es ein eindeutiges Fachbuch ist, auch
viele interessierte Eltern als Leser. Denn diese werden derzeit mit
attachment parenting, dem wichtigsten Trend in der
Erziehungs-Literatur konfrontiert. Bindung ist für jede bewusst
erziehende Familie ein key word und eines der wichtigsten
Erziehungsziele überhaupt. Ursula Henzinger macht Mut und zeigt,
wie sich mit einfachen Mitteln und Selbstreflexion
Bindungsverhalten fördern, ja auch nachreifen lässt.
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