Rezension zu Unterwegs in der Fremde
Punktum. Zeitschrift des Schweizerischen Berufsverbandes für Angewandte Psychologie, Mai 2017
Rezension von Marianne Zweifel
Innerseelische Lücken
Auf vielfältige Art zeigt dieses Buch, dass Migration nicht nur mit
äusseren, sondern mit sehr komplexen innerpsychischen Prozessen
verbunden ist. In sechs Kapiteln wird von der psychoanalytischen
Arbeit mit Leuten aus den unterschiedlichsten Weltgegenden
berichtet, die nach Deutschland emigrierten: Frauen, die durch
Heirat nach Deutschland kamen; Kinder, die mit ihren Eltern aus
fremden Kulturkreisen einreisten und in ihrer Identität zerrissen
sind; Flüchtlinge aus Kriegsgebieten; Jugendliche, die von ihren
Familien alleine auf die Flucht geschickt wurden; Eltern, die sich
vor lauter Anpassungsbemühungen überfordern und deren Kinder
darunter leiden.
Verschiedenste Arbeiten zeigen Therapieverläufe sehr detailliert,
und es wird deutlich, dass die Anforderungen an die Therapeuten
sehr hoch sind. Ohne eigene vertiefte Auseinandersetzung mit dem
»Fremden«, dem eigenen Rassismus, aber auch mit der eigenen
Hilflosigkeit und dem Versagen ist diese »Tiefen-Arbeit«, das
Offenbleiben der Therapeuten trotz entgegengebrachtem Misstrauen,
der auf sie projizierten Feindbilder und der Hassgefühle der
Migranten, gar nicht möglich.
Zentrale Punkte in der Therapie sind das Zulassen und Aushalten des
psychischen Schmerzes und die oft tief verdrängte Trauer über das
Verlorene. Das Zulassen schmerzlicher Trauer ermöglicht den Zugang
zu verschütteten positiven Erlebnissen aus dem früheren Leben.
Diese wiederum führen zu Vertrauen und Selbstwert, Grundlage für
eine gute Integration im neuen Land. Dieser Zugang muss in
schwierigen, länger dauernden Prozessen gefunden werden.
So wird die Therapie mit einem schwer depressiven,
suizidgefährdeten Studenten beschrieben, der mit fünf Jahren mit
seinen Eltern emigrierte. Erst durch die Therapie wird ihm klar,
dass er die geliebte Grossmutter, bei der er die ersten Jahre
verbrachte, sehr vermisst und er in einer völlig neuen Umgebung
lernen muss, psychisch zu überleben. Über eine lang andauernde
Sprachlosigkeit in der Therapie wird ihm, vor allem mit Hilfe der
Gegenübertragungsgefühle und -bilder der Therapeutin, nach und nach
der Schmerz über diese Trennung bewusst, und er findet zu seinen
Erinnerungen und zur vermeintlich vergessenen Sprache seiner
Kindheit zurück. Oder eine Flüchtlingsfamilie leidet unter den
lähmenden Depressionen der Mutter. Erst als die Therapeutin mit der
Frau ohne Mann und Dolmetscherin redet, kann sie von ihren
Schuldgefühlen wegen der erlittenen Vergewaltigungen berichten. Und
von ihren Ängsten, verstossen zu werden. »Nicht weniger wichtig als
das Durcharbeiten des jüngsten Traumas war jedoch die Aufarbeitung
der ungelösten Kindheitsschmerzen und -konflikte, die bestimmend
für die Wahrnehmung des aktuellen Traumas waren«, meint die
Therapeutin dieser Familie und beruft sich damit auf den typisch
psychoanalytischen Zugang zu diesen Problemen.
Das Fehlen der Heimat hinterlässt in den Flüchtlingen innerseelisch
eine Lücke, durch die sie sich ungeborgen fühlen. Diese sollte
möglichst rasch wieder aufgefüllt werden durch Sicherheit und
haltende Beziehungen. Gewährleistet durch Kontinuität – was
zugleich das Dilemma der Flüchtlinge ist.
Abgewehrte Trauer und Kindheitskonflikte sind wichtige Faktoren für
eine erschwerte Integration. Sich den eigenen Konflikten in einer
Therapie zu stellen, ist nicht allen möglich. So wird auch von
überhöhten Erwartungen von Migranten und dem Scheitern oder
Nichtzustandekommen von Therapien erzählt.
Interessant ist, dass viele Arbeiten vorgestellt werden von
Psychoanalytikerinnen mit Migrationshintergrund, also
Therapeutinnen, die selber mit all diesen Identitäts- und
Integrationsfragen konfrontiert waren. Können sie das Vertrauen der
Migranten leichter gewinnen?
Zumeist sind die Therapeuten auf Dolmetscher angewiesen. Dieses
Thema wird leider nur kurz gestreift, obwohl eine zusätzliche
Person gerade in der psychotherapeutischen Arbeit ein
entscheidender Einflussfaktor bleibt, schade! Die Vielfalt von
Sichtweisen auf eine Problemstellung kann ein Reichtum sein, birgt
aber die Gefahr einer Überflutung. Da hätte ich mir eine mehr
auswählende Hand der Herausgeberinnen gewünscht. Nicht nur
Fachleute, die mit Migranten arbeiten, sollten dieses Buch lesen,
sondern auch Leute in entscheidenden Gremien, Politiker,
Meinungsbildner, Medienleute usw.