Rezension zu Bindung und Autonomie in der frühen Kindheit
www.fuerkinder.org
Rezension von Erika Butzmann
Über die Bedeutung der Eltern-Kind-Bindung
27. Mai 2017
Dieses Buch ist ein Glücksfall für unsere Zeiten, wo mit einer Flut
von wirtschaftspolitisch angetriebenen wissenschaftlichen
Veröffentlichungen zur frühen Entwicklung ausschließlich die
Bildungsfähigkeit der kleinen Kinder fokussiert wird.
Ursula Henzinger, Humanethologin, EEH-Fachberaterin und Obfrau
ZOI-Tirol, setzt dem aus humanethologischer Sicht etwas
Grundsätzlichen entgegen. Das Buch ist geeignet, solche
Scheuklappenwissenschaftler wach zu rütteln durch einen tiefen
Einblick in die frühen Entwicklungsprozesse, die Bildung überhaupt
erst möglich machen. Es wird beschrieben, wie die sich über einen
längeren Zeitraum entwickelnde Bindung des Kindes an seine Eltern
ungeheure Wachstums- und Entfaltungspotenziale freisetzt.
Bindung als Voraussetzung für Bildung
Auf der Grundlage jahrzehntelanger Feld-Forschungen stellt die
Autorin das Thema »Bindung und Autonomie« in hoch differenzierter
Form als Interaktionsverhalten dar, das nicht nur durch die
Bedürfnisse, sondern auch vom spontanen Sozialverhalten des Kindes
mit seinen altersspezifischen Besonderheiten geprägt ist. Bevor sie
dies im zweiten Teil des Buches entlang der kleinen und so
wichtigen Schritte im Wechselspiel zwischen Mutter und Kind
darstellt, gibt sie mit dem ersten Teil einen Einblick in die
Forschungsmethoden der Humanethologie und deren Erkenntnisse zur
Natur und Kultur der Eltern-Kind-Beziehung.
Was hier als akademischer Exkurs erscheint, birgt wichtige
Informationen über die Mechanismen, die gesellschaftliche
Entwicklungen steuern. Am Beispiel des Stillens und der erst im
letzten Jahrhundert entstandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse
über die Bedeutung der Mutter-Kind-Bindung zeigt sie diese Prozesse
auf und macht deutlich, wie die Kultur die Natur immer wieder
zulasten dieser sozialpsychologisch überlebenswichtigen Beziehung
überformt. Dass dies in unserer derzeitigen Gesellschaft gerade
wieder passiert, sei von der Rezensentin nur am Rande bemerkt.
Den Begriff der »Feinfühligkeit« prall mit Inhalt gefüllt
Der für die Praxis relevantere zweite Teil des Buches behandelt die
kleinen und großen Ereignisse im Leben des gesunden Babys und
Kleinkindes. An dieser Stelle muss hervorgehoben werden, dass hier
der dauerhaft strapazierte wissenschaftliche Begriff der
Feinfühligkeit so prall mit Inhalt gefüllt wird, dass keine Fragen
mehr offen bleiben:
Wann und warum braucht das Kind Nähe, Distanz, Erregung,
Sicherheit, Aufmerksamkeit und wie können Eltern das Kind so
begleiten, dass der genetisch vorgegebene Entwicklungsmotor ohne
Hemmungen läuft?
Viele kleine beispielhafte Situationen illustrieren das
Beschriebene und zeigen das Wesentliche dieser frühen Entwicklung
auf: Das Kind benötigt Zeit und Ruhe für die Entfaltung all seiner
kognitiven und sozialen Fähigkeiten. Eingriffe von außen stören den
Prozess!
Wie Empathie entsteht und sich entwickelt
Das soziale Lernen wird am Beginn durch die Gefühlsansteckung bzw.
Stimmungsübertragung gelenkt und im Weiteren durch Intuition
(spontanes Sozialverhalten), wenn die Umwelt für das Kind
›wohltuend‹ ist. Wie sich dabei Empathie und soziales Denken und
Verstehen entwickelt, ist auf mehreren Ebenen mit vielen Beispielen
erläutert. Hier ist anzumerken, dass die Autorin im Hinblick auf
das soziale Verstehen hin und wieder die kindlichen
Verhaltensweisen zu überschwänglich interpretiert, so dass Eltern
aufpassen müssen, die Erwartungen an ihre Kinder nicht zu hoch zu
schrauben.
Die Einzigartigkeit der Bindung des Kindes an die Eltern ist der
Rahmen, der die Ereignisse der frühen Zeit zusammenhält. Die
während dieser Zeit vom Kind ausgehende Nähe-Distanz-Regulierung
spielt für die Autonomie-Entwicklung eine wesentliche Rolle. Für
die Altersspanne bis zum Alter von 4 Jahren ist dies im Einzelnen
beschrieben. Dabei werden die enormen Fähigkeitszuwächse bei den
besonderen Entwicklungssprüngen durch das Selbsterkennen mit zwei
und vier Jahren genau beleuchtet und auch die Konflikte behandelt.
Es wird betont, dass die damit verbundenen sozialen Wahrnehmungs-
und Verhaltensleistungen vor allem den Zweck haben, die Bindung
zwischen Kind und seinen wichtigsten Bezugspersonen auf jeweils
neue Weise zu festigen, weil neu entstehenden Unsicherheiten und
Ängste die Erreichbarkeit der Eltern nötig macht.
Lernen im Spiel und durch Herausforderungen
Dem Einüben von wohltuendem Verhalten beim Lernen im Spiel wird im
letzten Kapitel viel Raum gegeben. Das Lernen durch
Herausforderungen schließt daran an und behandelt sowohl die
Bedeutung von Trotz und Aggressionen für die
Persönlichkeitsentwicklung als auch das soziale Lernen durch
Geschwister und andere Kinder.
So ergibt sich mit diesen Ausführungen und Darstellungen ein
umfassendes Bild darüber, wie sich durch eine sichere tragfähige
Bindung an die Eltern beim Kind (Selbst-)Bildung entwickelt. Auf
diesem Weg entstehen sowohl die von der Wirtschaft erwartete
optimale Bildung als auch die gesellschaftlich wichtigen sozialen
Kompetenzen beim Kind. Wenn jedoch die Basis der sicheren Bindung
fehlt, sind alle von außen bestimmten Bildungsmaßnahmen weitgehend
wirkungslos.
Das Buch ist übersichtlich gegliedert. Zum besseren Überblick über
die einzelnen behandelten Bereiche gibt die Autorin an den
jeweiligen Stellen hilfreiche kurze Zusammenfassungen. Ein Glossar
am Schluss erläutert wissenschaftliche Begriffe und erweitert damit
das Verständnis.
Eltern und alle anderen, die mit Kindern zwischen null und vier
Jahren leben und arbeiten, erhalten eine Fülle von Anregungen. Ganz
besonders für die Eltern, denen das Verhalten ihres Babys und
Kleinkindes manchmal spanisch vorkommt, ist das Buch ein Segen. Sie
erkennen damit die Motive und Beweggründe für das Handeln des
Kindes und können dann vielleicht die frühe gemeinsame Zeit mehr
genießen.
Erika Butzmann
www.fuerkinder.org