Rezension zu Das lebendige Gefüge der Gruppe
Gestalttherapie. Forum für Gestaltperspektiven, 31. Jahrgang, Heft 1, 2017
Rezension von Klaus Antons
Selten habe ich ein so spontanes Ja gesagt wie bei der
Rezensionsanfrage von Ingrid Krafft-Ebing: Seit langem suchte ich
mehr von Schindler als die zwei klassischen Artikel zur
soziodynamischen Grundformel von 1957 und 1969. Schließlich ist
seine Grundformel ein heuristisches Modell, das ich bevorzugt
verwende, um Schattenseiten von Gruppenphänomenen wie Spaltungs-,
Ausgrenzungs- und Sündenbockprozesse verständlich zu machen.
Die Lektüre des Werkverzeichnisses bestätigte mir: Schindler hat in
seinem langen Leben ausgesprochen viel publiziert. Aber unter
seinen etwa 150 Titeln, meist recht kurzen Artikeln und Beiträgen,
findet sich kein einziges selbst geschriebenes Buch! Seine sechs
herausgebenden Schülerinnen haben eine vermutlich repräsentative
Auswahl von 27 Arbeiten in eine – nach Lebensphasen – gut
gegliederte und klug kommentierte Reihenfolge gebracht und dabei
die Person Schindlers in die Entwicklungsgeschichte von
Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik in Österreich eingebunden.
Es war Schindler, der als machtvoller Propagator der
Gruppenpsychotherapie bewirkt hat, dass im vergleichsweise kleinen
Österreich gleich zwei gruppendynamische Verbände mit einer
größeren Mitgliederzahl und deutlich höherem sozial- und
gesundheitspolitischen Einfluss tätig sind als in Deutschland.
Raoul Schindler war mehr als nur die soziodynamische Grundformel –
auch wenn diese das Cover ziert und sich als Continuum durch das
Buch zieht. Die Auswahl zeigt, dass er ein früher
Familientherapeut, ein engagierter Sozialpsychiater und noch
einiges mehr war.
Jacob L. Moreno spielt für Schindler eine bedeutende Rolle, wie der
letzte Artikel des ersten Schwerpunktes der Originaltexte zeigt,
der mit »Auftrag und Orientierung: Bifokale Familientherapie
1952–1956« betitelt ist. Schindler hatte zutiefst beeindruckt, wie
der Begründer des Psychodramas in seiner szenisch-theatralischen
Art direkten Kontakt zu einer stuporösen Patientin aufnimmt und sie
in einen Dialog bringt.
Ein Moment wird deutlich, das, epochal bedingt, Schindlers Werk
trotz aller Modernität und Zukunftsorientierung durchzieht: Er tut
sich schwer, sich von der »ärztlichen Autorität« zu lösen. Genau
das macht mir sein Modell der Rangdynamik befragenswert: Wie weit
bezieht es seine Schlagkraft aus der »ärztlichen Autorität«? In
diesem ersten Schwerpunkt wird deutlich, wie Schindler ein
familiendynamisches Konzept entwickelt, das sich bewährt: die
bifokale Gruppentherapie bei Schizophrenen mit getrennten
Gruppentherapien bei Patientinnen und ihren Angehörigen.
Der zweite Schwerpunkt heißt »Vernetzung und Experiment:
Rangdynamik 1957–1963«. Nach dem grundlegenden Artikel von 1957
entwickelt Schindler sein Modell in fast allen nachfolgenden
Beiträgen Schritt für Schritt weiter. Es war spannend, nochmals den
Ur-Artikel zu lesen. Etliches war mir entfallen, anderes mir
Geläufige gar nicht darin enthalten! Der »Gegner« wird hier noch
gar nicht expliziert. – Die »Ur-Formel« (110) ist sehr geprägt vom
»ärztlichen Leiter der Gruppe«; für diesen sei die Beta-Position
die geeignetste; allerdings solle er auch einmal die Omega-Position
erprobt haben. In Schindlers frühem Denken ist nur das Alpha
»analysewillig« und in diesem Sinne die Führungsfunktion der
Gruppe; Gamma trägt die Arbeitsleistung der Gruppe, ohne mit der
Willensbildung belastet zu sein. – Die Grundformel ist nur ›eines‹
seiner Denkmodelle; das andere, ebenfalls bis zum Ende weiter
entwickelt und differenziert, sind die
»Personalisationsphasen«.
Am 3. Juni 1959 hält Raoul Schindler das Eröffnungsreferat zur
Gründung des ÖAGG. Der Verein selbst sei eine Art Gruppenexperiment
– mit jeweils dualer Führung in jeder der drei Sektionen. Dass sich
der Verband anders entwickelt hat als damals geplant, ist ein Teil
seiner Erfolgsgeschichte. 1960 referiert Schindler in Lindau über
den »Gruppentherapeuten und seine Position in der Gruppe«: Es gebe
keine optimale Position für den Gruppentherapeuten, flexibler
Wechsel sei angesagt und Festhalten an einer Position spreche für
unbewusste Ängste beim Therapeuten.
In »Personalisation in der Gruppe« fügt er den bisherigen Phasen
die »prägruppale Bezogenheit« hinzu; der Gegner wird differenziert
als jemand, »den man vielleicht das wissenschaftliche Rätsel der
menschlichen Person nennen könnte« (175).
Der dritte Schwerpunkt bezieht sich auf die gesellschaftspolitisch
wichtigen Jahre 1966 bis 1978 und trägt den bezeichnenden Titel
»Reform und Gesellschaft: Omega«. – Die Omega-Funktion spielt in
der Tat eine weit größere Rolle als bisher. Der Satz »der
schizophrene Patient verhält sich also wie eine Minoritätsgruppe«
(207) zeugt von einem verstärkten sozialen Engagement, das in
erster Linie immer noch den psychotischen Patienten gilt.
In weiteren Artikeln grenzt Schindler die Moreno’sche Soziometrie
gegen seine Rangordnungsdynamik ab und formuliert, dass im Omega
die Ambivalenz der Gruppe zur Darstellung komme. Zwei Beispiele
einer Ärzte- und einer Bergsteigergruppe verlebendigen die
Theorie.
»Krise der Gruppe – Beratung durch die Gruppe« macht mit einer
schönen Neuformulierung der Grundformel deutlich, dass Schindler
sie trotz allen Beharrens an ihr weiterentwickelt und
flexibilisiert. Er postuliert, dass eine Gruppe mit der Ausprägung
der Rangstruktur ihre volle personale Reife erreicht habe, ein
Organismus, eine Ganzheit geworden sei – etwas anderes als die
Summe ihrer Teile. Eine Gruppe gerate in eine Krise, wenn sich die
Rollen verfestigen und damit die Institutionalisierung
eintritt.
»Störungen der Selbstfindung in der Gruppe – Behinderungen und
Widerstände« präsentiert er 1977 und fokussiert den Narzissmus des
AIpha. Dauer-Alphas seien Ausbeuter der Gruppe: »Wer seinen
Charakter wahrt, ohne ihn auch zur Verfügung zu stellen, stört die
Selbstfindung seiner selbst und die seiner Gruppe« (247). – Der
diesem Schwerpunkt gegebene Titel »Omega« ist etwas einseitig;
mindesten ebenso sehr differenziert er die Risiken der
Alpha-Position aus.
Der vierte Schwerpunkt »Soziale Vision und Institutionalisierung:
Macht« umfasst die Periode zwischen 1968 und 1993. Es geht um
Auseinandersetzung mit Macht in der Organisation psychoanalytischen
Wissens und dem Umgang damit in der Zunft der Psychoanalytiker. 20
Jahre Alpbach sind eine sehr spannende Geschichte von Experimenten,
Irrungen und Wirrungen. Bei allem Respekt vor Schindlers Leistung:
Seine beiden Konzepte ontologisieren sich zusehends. Sie werden
nicht mehr als Konzepte und Hypothesen beschrieben, sondern: Es ist
so! Und dass sich die Erkenntnisse aus seinen Studien »leicht auf
gesellschaftliche Vorgänge übertragen« (288) lassen – daran habe
ich doch inzwischen meine gelinden Zweifel.
Im fünften Schwerpunkt sind es noch drei Interviews mit Raoul
Schindler, in denen er sein Vermächtnis weitergibt. Er bleibt bis
zum Schluss ein dem Medizinalsystem gegenüber kritischer Kopf, der
das Scheitern bzw. die Unabgeschlossenheit der Psychiatriereform
konstatiert, sich aber gegen einen Kulturpessimismus zur Wehr
setzt.
Dem Buch sind ein Glossar, ein Lebenslauf und das Werkverzeichnis
beigegeben.
Ich kann den Herausgeberinnen meine Hochachtung für diese Leistung
bekunden: Sie haben das verstreute und unorganisierte Werk Raoul
Schindlers so komprimiert, dass eine fachliche und menschliche
Entwicklungslinie deutlich und ein wichtiger Repräsentant
gruppendynamischen Denkens gewürdigt wird.