Rezension zu Rhythmik und Autismus

Musiktherapeutische Umschau 2017, Bd. 38, Heft 1

Rezension von Thomas Bergmann

Gleich zwei aktuelle Veröffentlichungen thematisieren Musiktherapie, Körperlichkeit im weiteren Sinne und Autismus. Dass damit Körper, Leib, Bewegung in den Fokus musiktherapeutischer Betrachtung und Handlung gestellt werden, ist erfreulich und zeitgemäß, da auch in der Psychologie Embodiment im Kognitionsverständnis zunehmend Konjunktur hat, Sensorik und Motorik in den Vordergrund rücken und der Mensch mehr als Ganzes betrachtet wird. Dies gilt auch für Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), wo in der diagnostischen Klassifizierung im DSM-5 sensorische Auffälligkeiten als Marker mit einbezogen wurden und motorische Besonderheiten als Kernsymptome zunehmend diskutiert werden. Damit gibt es zwei Buchveröffentlichungen am Puls der Zeit, die nicht nur für Autismus-Interessierte lesenswert sind, sondern mit unterschiedlichen Konzepten zum Einbezug des Körperlichen in die musiktherapeutische und heilpädagogische Arbeit eine breite Leserschaft ansprechen können.

»Rhythmik und Autismus« von Lucia Kessler-Kakoulidis vermittelt ein breites Wissen um Rhythmik und eine Leidenschaft für die pädagogische und therapeutische Arbeit mit Kindern aus dem Autismus-Spektrum. Dass die Autorin auf jahrzehntelange Erfahrung in der Arbeit mit dieser Klientel zurückblickt, zeigt sich insbesondere in den gut reflektierten und zum Teil auch berührenden Fallbeispielen aus eigener Praxis, die eine ganz besondere Qualität in dieser umfangreichen Veröffentlichung darstellen. Das Buch ist klar strukturiert und beginnt mit einem historischen Überblick zur Konzeption der Rhythmik als ganzheitliches Konzept der Reformpädagogik Anfang des letzten Jahr-hunderts und als Gegenentwurf zum musikalischen Drill. Es folgt die Darstellung der Basiselemente Rhythmus, Musik, Bewegung, Spiel und Improvisation; Rhythmik zwischen Pädagogik und Therapie; das integrative Konzept von Amélie Hoellering als Erweiterung der Rhythmik um tiefenpsychologische Aspekte; und letztlich Rhythmik als Intervention bei Autismus-Spektrum-Störungen. Dabei holt die Autorin sehr weit aus, streift umliegende Bereiche und liefert eine große Breite an unter anderem auch an musiktherapeutischen Referenzen. Das mag dazu führen, dass man explizit erst nach gut 200 Seiten bei dem Kernthema Autismus anlangt. Andererseits wird der Leser auch vorher immer wieder implizit durch Fallbeispiele und Exkurse an das Thema herangeführt. Aufgrund ihrer Prägnanz und ihrem Bezug zur Körperlichkeit sind mir Aussagen wie »... dass Musik mittels der Bewegung existiert und Bewegung musikalischen Ausdruck impliziert« oder »Selbsterfahrung ... vollzieht sich mittels der reziproken Wahrnehmung körperlicher, geistiger und emotional-affektiver Bewegungsvorgänge« im Gedächtnis geblieben. In dem Abschnitt zum ›Safe Place‹, das heißt einem angemessenen Setting, hat mir die eindrückliche Beschreibung autistischer Wahrnehmung, Bedürfnisse sowie resultierender Verhaltensweisen und Komplikationen aus der Perspektive eines betroffenen Kindes besonders imponiert. Insgesamt ein empfehlenswertes Buch für Menschen, die mit autistischen Kindern arbeiten (wollen) und für Musiktherapeuten oder Heilpädagogen, die ihre Arbeit um die Elemente Körper und Bewegung konzeptionell erweitern möchten. Durch ein umfangreiches Sachregister eignet sich das Buch auch als Nachschlagewerk.

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