Rezension zu Einführung in die psychoanalytische Betrachtung bildender Kunst
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Rezension von Hans Hopf
Zwar umfasst der vorliegende Band mit Anmerkungen und Literatur nur
134 Seiten, umso mehr überzeugen seine außergewöhnlich spannenden
und überzeugenden Inhalte. Die Autorin vermittelt eine sorgfältige
Einführung in die psychoanalytische Betrachtungsweise bildender
Kunst. Die Interpretations-Beispiele reichen dabei von Leonardos
Mona Lisa bis hin zur modernen Kunst.
Freud hat bereits auf die Analogie zwischen Traum und bildender
Kunst hingewiesen und hat Kunstwerke vor dem Hintergrund der
Biographie des Künstlers verstanden. Gemäß einer solchen
Interpretation kann das Lächeln der Gioconda Leonardos unbewusste
Erinnerungen an das Lächeln der Mutter wiedergeben. Doch dieses
Lächeln ist universal, es ist letztendlich ein Archetyp, weil es
jeder Mensch zeitlebens unbewusst als einen Ausdruck von
Zärtlichkeit und Sinnlichkeit sucht, da es in seiner Kindheit
unvollkommen bleiben musste.
Eine weitere Möglichkeit ist der werk- und künstlerorientierte
Zugang, den Christian-Widmaier am Beispiel der Concept-Art
verdeutlicht. Beim künstlerorientierten Zugang werden die Spuren
der äußeren und inneren Biographie aufgegriffen. Diese Sichtweise
verdeutlicht die Autorin an den Arbeiten von Niki de Saint Phalle,
angefangen mit ihren »Schießbildern«. Das Bild wurde zum Opfer, und
die Künstlerin fragt, ob dabei Daddy gemeint ist – oder alle
Männer. Es wird deutlich, dass Niki de Saint Phalle mit diesen
Kunstwerken ihr eigenes Trauma reinszeniert hat: Sie wurde mit
nicht ganz 12 Jahren vom Vater missbraucht und litt zeitlebens an
Zusammenbrüchen, Depressionen und massiven Bindungsproblemen.
Christian-Widmaiers wichtigster Zugang zu den Kunstwerken ist das
Mittel der Gegenübertragung, vereinfacht gesagt, die Wahrnehmung
aller Reaktionen eines Betrachters auf das Bild. Dabei wird dem
komplexen Beziehungsgeschehen zwischen Künstler, Kunstwerk und
Betrachter nachgegangen, die Erschließung des Kunstwerkes geschieht
also aus der Betrachterperspektive. Als Beispiel dient hier Adolph
Menzels Bild »Das Balkonzimmer«, das beispielsweise als seelischer
Innenraum voller Leere und Depression verstanden werden kann.
Das Buch hat einen ersten Teil, der von kunstinteressierten Laien
gut verstanden werden kann. Der Anmerkungsteil ist wohl eher für
Experten und Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker gedacht.
Ich kann diesen Band uneingeschränkt allen empfehlen, die sich für
bildende Kunst interessieren. Sie werden eine Fülle von Anregungen
bekommen, um künstlerischen Werken – auch bei Museumsbesuchen und
Vernissagen – mit einem neuen Verständnis zu begegnen.
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