Rezension zu Orakel, Träume, Transzendenz

Sociologus – Journal for Social Anthropology, Volume 66, 2016, Issue 2

Rezension von Rolf Verres

Dieses Buch verbindet auf originelle Weise Theorie und Praxis, und es regt dazu an, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Heilritualen in Lateinamerika und Europa herauszufinden. Die Autorin stellt nicht einfach dar, was sie bei der Beobachtung mexikanischer »Curanderos« in der Region Oaxaca gesehen, gehört oder gefühlt hat, sondern sie lässt die Leserinnen und Leser Anteil nehmen an ihren eigenen Reflexionen und Dialogen mit Heilerinnen und Heilern und deren Klientel. Der subjektive Faktor auf Seiten der Autorin wird relativiert durch eine einleitende Darstellung des Forschungsstandes zur traditionellen mexikanischen Medizin (TMM) und eine abschließende Bezugnahme auf moderne westlich genannte (v. a. europäische und US-amerikanische) Konzepte von Psychotherapie und Psychosomatik.

Die Autorin geht von der Schätzung aus, dass für drei Viertel der Weltbevölkerung keine Psychotherapie westlicher Formate die Methode der Wahl bei psychischen Störungen ist. Dennoch wird die große kulturelle Vielfalt traditioneller Heilmethoden von der westlichen Psychotherapieforschung bisher nur wenig zur Kenntnis genommen oder gar abgewertet, meist mit der Begründung, es mangele an empirischer Diagnostik und an systematischer Evaluation. Nach Ansicht der Autorin ist damit eine »Entzauberung« der Medizin verbunden, woraus sich ein entsprechender Bedarf an Neubesinnung zur Metaphysik ableiten lasse.

Steffi Zacharias ist psychologische Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin sowie Dozentin und Supervisorin am Dresdner Institut für Psychodynamische Psychotherapie. Drei Jahre lang hat sie Feldforschungen in der südmexikanischen Region Oaxaca durchgeführt; weiterhin ist sie Mitglied des Rates für Interamerikanische Spiritualität (ISEI). Ihr geht es nicht um wertende Vergleiche, sondern um Dialog. Entsprechend stützt sie sich auf interdisziplinäres Quellenmaterial aus Ethnologie, Soziologie, Psychologie und Psychotherapieforschung.

Ausführlich beschreibt sie die traditionelle mexikanische Medizin als eine erfahrungsbasierte indianische Heilkunde, die bereits weit vor der Ankunft der spanischen Kolonialisatoren als ein sehr differenziertes Medizinsystem existierte. Dabei konzentriert sie sich auf solche Erkrankungen, die im westlich-abendländischen Kulturkreis als psychische oder psychosomatische Störungen bezeichnet werden.

Erst im Anhang bringt die Autorin eine Übersicht zu ihren Methoden der einzelfallanalytisch orientierten Therapieerfolgsstudie. Sie stellt nämlich nicht nur dar, wie die von ihr untersuchten Curanderos konkret handelten, sondern hat zu verschiedenen »Messzeitpunkten« auch deren Wirkung auf die Gesundheit der Patientinnen und Patienten zu erfassen versucht. Neben den qualitativen Erhebungsmethoden (Beobachtung, fokussierte Interviews zum subjektiven Erleben der Behandlungsverläufe bei Heilerinnen und Heilern, Patientinnen und Patienten) wurden auch quantifizierende Ratingskalen und Fragebögen zur Verlaufsbeurteilung eingesetzt, um Veränderungen nicht nur auf der Symptomebene zu erfassen, sondern diese auch mit allgemeineren Parametern zur Funktionstüchtigkeit und Bewältigungskompetenz zu vergleichen. Dies entspricht dem Grundsatz der »Ressourcen-Orientierung« moderner Psychotherapie westlicher Provenienz. Für die zusammenfassende Bewertung des Therapieerfolges pro Behandlungsfall hat die Autorin im Anhang einige Auswertungsalgorithmen formuliert, die allerdings im fortlaufenden Text des Buches nicht störend auffallen. Das hat den Vorteil, dass man sich als Leser oder Leserin ganz auf die eher bildhaften Darstellungen des beobachteten Geschehens und deren Interpretationen einlassen kann, sofern man (wie der Rezensent) bereit ist, den Andeutungen methodischer Sauberkeit zu vertrauen, statt ständig durch Verweise auf Methodik oder gar Statistik von der eigentlichen Botschaft des Buches abgelenkt zu werden.

Nach einer Darstellung der Lebensbedingungen und Werdegänge der von Steffi Zacharias ausgewählten drei Curanderos (eine männliche und zwei weibliche Personen) und deren Klientel folgen zunächst einige Selbst- und Beziehungsreflexionen. Dazu gehören auch die nicht immer unproblematischen Rückwirkungen ihrer Besuche auf das soziale Ansehen der Heilerinnen und Heiler: einerseits als eine gewisse soziale Aufwertung, andererseits aber auch als Neid oder Misstrauen Anderer angesichts der Tatsache, dass indianische Ethnien sich allzu oft als Opfer ausbeuterischer Interessen erlebt haben. Der durch Berichte in auflagenstarken US-amerikanischen und europäischen Illustrierten (ab 1957) über den mexikanischen Curanderismus angefachte »psychedelische Tourismus« hat in einigen Gegenden Lateinamerikas zu einer entfremdenden Kommerzialisierung eines primär hedonistischen, respektlosen Gebrauchs von psychoaktiven Substanzen geführt. Auf diesem Hintergrund ist das Eingehen einer persönlichen, vertrauensfördernden Beziehung zwischen der Forscherin und ihren Forschungssubjekten wichtiger als eine möglichst neutral-abstinente Haltung – selbst wenn die so entstehende menschliche Nähe möglicherweise die »Objektivität« von Forschungsergebnissen unterminieren könnte. Sorgfältig und nachvollziehbar stellt die Autorin ihre Versuche dar, durch Gegenleistungen möglichst symmetrische Beziehungen anzustreben.

Die Beschreibung des Standes der Forschung und der eigenen Forschungen ist in theoretischer und didaktischer Hinsicht sehr gut gegliedert, so dass das Werk in weiten Teilen nahezu wie ein Lehrbuch anmutet. Die inhaltsanalytische Auswertung der Aufnahmen und Aufzeichnungen verbindet die Autorin mit Systematisierungen und prägnanten Zusammenfassungen.

Steffi Zacharias geht von der Annahme einer Seele-Geist-Dualität des Psychischen aus, wobei sie zur Semantik der relevanten Begriffe sowohl lateinamerikanische als auch europäische Konzepte (von Aristoteles bis heute) beleuchtet. Dabei sind Unterschiede zwischen dörflich-traditionellen und urbanen Heilerinnen und Heilern zu beachten. Die Autorin möchte zu einem tief gehenden wissenschaftlichen Verständnis möglicher therapeutischer Dimensionen des Religiösen beitragen, welches in Lateinamerika meist synkretistisch ist. Heiler und Heilerinnen rufen während der Behandlung göttliche Kräfte an, zugleich werden auch Gefahren wie z.B. Hexerei oder »frei schwebende negative Energien« gesehen, die anhand von Reinigungs- oder Opferritualen zu einer vertieften Beschäftigung mit Zuständen veränderten Wachbewusstseins führen können.

Aus ihren Aufzeichnungen hat die Autorin inhaltsanalytisch elf spezifische Krankheitskonzepte destilliert. Sie betreffen angenommene Krankheitsursachen (z.B. susto = Erkrankung durch Erschrecken), auslösende Faktoren (z.B. negative Prägung der Atmosphäre, etwa durch einen »bösen Blick«), den Ort des strukturell-funktionalen Krankheitsgeschehens (z.B. emotional-affektive Regulationsebene) und spezifische Symptombereiche wie z.B. psychophysische Agitiertheit, Angststörungen oder erhöhte Vulnerabilität. Selbst vordergründig klischeehaft anmutenden Vorstellungen wie etwa der vereinfachenden Annahme einer Erkrankung durch Hexerei liegen bei genauerer Exploration ätiopathogenetische Konzepte zu Grunde, die zu einem tieferen Verständnis der Funktionsweisen und Sinnhaftigkeit magisch wirkender Handlungen führen können. Die Absicht, einem Anderen einen Schaden zufügen zu wollen und ihn dadurch krank zu machen, wird oft indirekt und verschleiert in Handlungen umgesetzt und mag dann als Hexerei oder schwarze Magie bezeichnet werden – zugleich wird aber auch die Wirkmächtigkeit der Heilerinnen und Heiler auf den Plan gerufen, die mit ihren Ritualen eine andere Art von Energie verkörpern wollen und selbst dann noch als stark empfunden werden, wenn sie mit ihren Bemühungen scheitern.

Ein besonderes Interesse der Autorin gilt den Ansichten traditioneller Heilerinnen und Heiler zu Salutogenese und Prävention. Sie vergleicht Merkmale angenommener Zustände seelischer Gesundheit in der TMM und der westlichen Psychotherapie. Als eine zentrale salutogenetische Ressource sieht sie eine positiv getönte spirituell-religiöse Grundüberzeugung an, der in der westlichen Psychotherapie bestenfalls ein Außenseiterplatz zukomme. Ein »fehlender Glaube« (falta de fe) werde als ein Risikofaktor für psychische Erkrankungen angesehen. Bevorstehende potenziell kritische Lebensereignisse wie die Geburt eines Kindes oder die Eröffnung eines Geschäfts werden als typische Anlässe für die Hinzuziehung einer Heilerin oder eines Heilers genannt, von dem man Rituale mit protektiven spirituellen Wirkungen erwartet. Dabei werden auch Träume beachtet, kommentiert und mit Ritualen beantwortet, zum Beispiel als mit Gebeten begleitetes Kerzenopferritual am Hausaltar, als Übergabe eines Talismans und der im Ritual verwendeten Kerzen an den Träumer oder dessen Ehefrau mit der Aufforderung, sie im eigenen Haus erneut anzuzünden. Träume werden so als Frühsymptome einer möglicherweise bevorstehenden Störung gedeutet und als Anregung für (auto-)suggestive Gegenregulationen genutzt.

Die Grundzüge der Behandlungspraxis der TMM bei psychischen Erkrankungen werden in erster Linie anhand einer sakral genannten Bedeutungsdimension dargestellt. Opfer- und Schutzrituale – etwa als Einweihung oder Reinigung von Gebäuden oder Räumen – werden auch von der Gemeinschaft beim Heiler oder der Heilerin angefordert. Als wichtigsten Katalysator beschreibt die Autorin Zustände veränderten Wachbewusstseins, nicht nur der Patientinnen und Patienten, sondern vor allem auch der Heilerinnen und Heiler. Die rituellen Praktiken zur Nutzung natürlicher psychoaktiver Substanzen aus Pflanzen verkörpern das »Allerheiligste« der indigenen Medizin, nämlich den unmittelbaren Kontakt des Heilers mit der spirituellen Welt. In der Region um Oaxaca werden vor allem psychoaktive Pilze wie stropharia cubensis und psilocybe mexicana wertgeschätzt.

Zu guter Letzt kommt Steffi Zacharias zu der Schlussfolgerung, dass die TMM und die westliche Psychotherapie (mit ihren diversen Erscheinungsformen) als zwei gleichberechtigte Varianten symbolischer Umstrukturierung verstanden werden können. Nach Ansicht von Steffi Zacharias nehmen praktische Zugänge zur Spiritualität im Kontext westlicher Psychotherapie langsam aber sicher zu. Sie zitiert ausführlich Anton Bucher, der sogar von einer »spirituellen Wende« spricht. Insbesondere bei der Konfrontation mit existenziellen Themen wie etwa einer tödlichen Erkrankung erkennen immer mehr Menschen auch in der westlich-abendländischen Kultur ihre Bedürfnisse nach spirituellen Erfahrungen. Dabei werden auch psychoaktive Substanzen und weitere bewusstseinsverändernde Methoden wie etwa das Trancetrommeln in der Musiktherapie genutzt. Insbesondere der Überblick der Autorin zum aktuellen Stand der internationalen Forschung über substanzunterstützte Psychotherapien ist sehr differenziert und lesenswert.

Das Buch ist ein Glücksfall für Leserinnen und Leser, die einen differenzierten Einblick in die Praxis und die impliziten Theorien mexikanischer Heilerinnen und Heiler zu psychischer Krankheit und Gesundheit suchen und dabei nicht auf das Wissen der westlichen Heilkunde verzichten wollen. Auch wenn manche Fragen zur traditionellen mexikanischen Medizin offen bleiben wie beispielsweise zur Qualitätskontrolle bei der Berufswahl und der Ausbildung, bei der Diagnostik und der Evaluation, bietet das Buch eine große Fülle wichtiger Anregungen zum besseren Verständnis von »Ganzheitlichkeit« in einer konsequent interkulturell gehaltenen Perspektive.

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