Rezension zu Gesamtausgabe (SFG), Band 5
ÖAGG-Feedback – Zeitschrift für Gruppentherapie und Beratung, Nr. 1&2, 2017
Rezension von Anna Blaha
Die Sigmund Freud Gesamtausgabe (SFG) ist ein 23-bändiges
Kompendium Freudscher Erstveröffentlichungen. Der vorliegende Band
beinhaltet Schriften aus den Jahren 1895–1896, einem Zeitraum, in
dem Tochter Anna zur Welt kommt, Freuds Vater stirbt, er den »Traum
von Irmas Injektion« hat und zum ersten Mal das Wort Psychoanalyse
(am 15. Mai 1896) in einem deutschen Aufsatz verwendet. Auch in
seiner Arbeit markieren diese Jahre einen Wendepunkt. Erstmals
tritt er nach seinen »voranalytisch« bezeichneten Schriften mit
Ansätzen zu eigener, neuer Theorien- und Begriffsbildung an die
Öffentlichkeit. 15 Publikationen werden hier in chronologischer
Reihenfolge präsentiert. Darunter genuin Freudsche Texte erster
Begriffsfindungen zu Angstneurose, Zwangsvorstellungen und Phobien,
vor allem aber die »Studien über Hysterie«. Der Herausgeber hat
»jedem Text... eine Einführung in den biografischen und
wissenschaftshistorischen Zusammenhang vorangestellt«. Im übrigen
beschränkt sich die Ausgabe auf den unkommentierten Wortlaut, wie
er von Freud zum jeweiligen Zeitpunkt an die Öffentlichkeit
gebracht wurde. Eine Abstinenz, die es ermöglicht, sich auf die
genuinen Konzepte zu konzentrieren, die aber auch auf eigene und
völlig unorthodoxe Recherchen Lust zu machen vermag.
So könnte man das Protokoll, das Freud als Schriftführer seiner
ärztlichen Zeitgenossen angefertigt hat, auch mit dem Bewusstsein
lesen, dass im selben Jahr die Röntgenstrahlen entdeckt wurden,
während die Neurologen ihre Theorien noch ohne bildgebende
Verfahren durch Deutungsversuche gesammelter Leichenteilpräparate
und Vergleiche dokumentierter Fallgeschichten diskutieren mussten.
Kantsche Philosophie, Comtescher Positivismus und eine Nomenklatur,
die exzessiv Anleihe in antik-griechischer Mystik nimmt, fallen
heutigen Leser_innen ins Auge. Der auf eine Aphrodite-Sage
zurückgehende »Urning« sei da als Beispiel genannt. Vor dem
Hintergrund dieses zeitgenössischen Umfelds ist man bereit, Freuds
Pionierleistung doppelt zu würdigen. Es ist auch der Zeitraum, in
dem Freud dazu übergeht, seine Rezensententätigkeit quantitativ und
qualitativ einzuschränken. Er begnügt sich mit vier Rezensionen an
Arbeiten von Edinger, Hegar, Koch und Möbius über Neuritis und
Tabes, Geschlechtstrieb, Nervenleiden und Migräne. Themen, die in
sein engeres Interessensgebiet fallen. Wie bereits erwähnt, nehmen
die »Studien über Hysterie« den breitesten Raum in dieser
Dokumentation ein. Offen bekennt Freud z.B. im Fallbericht »Frau
Emmy v. N...« seine eigene selbstexplorative Haltung als Therapeut,
viele Jahre bevor er von Übertragung und Gegenübertragung sprechen
wird. Zwar darf man bei der interessierten Leserschaft die Kenntnis
dieser Schrift voraussetzen, es sei aber dennoch auf den in ihr
enthaltenen entscheidenden Schritt der Abkehr von der
Explorationshypnose, die Freud darin als »Breuersche Methode«
apostrophiert, hingewiesen. Erstmals ortet Freud einen Widerstand.
»... dass ich durch meine psychische Arbeit eine psychische Kraft
bei dem Patienten zu überwinden habe, die sich dem Bewusstwerden
(Erinnern) der pathogenen Vorstellungen widersetze.« Die
schrittweise Vorgehensweise bei der Exploration und Entwicklung
seiner Psychoanalyse, Erproben, Verwerfen, Beibehalten, Ergänzen
und Präzisieren, Protokollieren, Aufspüren von Widersprüchen und
Konsistenzen – und dabei stets die Selbstreflexion des explorierend
Therapierenden im Auge behalten .... All dies erfährt hier durch
die Einbettung in den streng chronologischen Zusammenhang eine
besondere Verständnisschärfe.
In »Obsessions et Phobies. Leur Mechanisme Psychique et leur
Etiologie« diskutiert Freud den Mechanismus der Zwangsvorstellungen
und Phobien aus einer (seiner) neuen Sicht. Zwar bleibt der
Herausgeber auch hier der seiner Ausgabe selbst auferlegten
Abstinenz treu und steuert keine Übersetzung des französischen
Originals bei. Die parallel vorhandene Fassung eines auf deutsch
gehaltenen Vortrags gibt aber reichlich Auskunft über den Inhalt.
Ähnliches gilt für »L/'heredite et l/'etiologie des nevroses«, wo
Freud die Genese der Neurose höher einschätzt als deren erbliche
Faktoren. Letzte Schrift im Band ist ein Vorwort zu Bernheims
»Suggestion und ihre Heilwirkung«, in dem Freud in Übereinstimmung
mit seinen Erfahrungen hinsichtlich der »Breuerschen Methode« (s.
Studien über Hysterie) hervorhebt, die »Suggerierung« sei »ein
pathologisches psychisches Phänomen, welches zu seinem
Zustandekommen besonderer Bedingungen bedarf.
Abgeschlossen wird jeder Band der SFG mit einer Konkordanz, die die
Lokalisierung von Freuds Schriften in der
Sigmund-Freud-Gesamtausgabe, den Gesammelten Schriften, Gesammelten
Werken, der Studienausgabe und der Freudbibliografie von
Meyer-Palmedo & Fichtner ermöglicht. Abbildungsverzeichnis,
Literaturverzeichnis sowie je ein Personen- und ein Sachregister
ergänzen das Werk zum Nachschlagen. Band 23 wird ein Gesamtregister
aller Bände enthalten. Die SFG wird dem Herausgeber zufolge bis
2021 vollständig erschienen sein und 563 Freudsche Arbeiten
enthalten.
Vorläufig sei auf die CD-Rom »Freud im Kontext« verwiesen, die
schon einen erheblichen Teil der Schriften enthält und über eine
Zeit sparende Suchfunktion verfügt. Einzelne Texte sind auch online
verfügbar, wie z. B. das Diarium, das den Band 22 in Form von zwei
Halbbänden füllen wird.
Der vorliegende Band besticht durch unkommentiertes
Ursprungsmaterial und lässt die Genese der Psychoanalyse durch den
Kontext des chronologischen Kanons veröffentlichter Erstfassungen
von der Leserschaft unmittelbar neu entdecken. Die bibliophile
Gestaltung sorgt optisch und haptisch für ein Lesevergnügen.