Rezension zu Das lebendige Gefüge der Gruppe (PDF-E-Book)
ÖAGG-Feedback – Zeitschrift für Gruppentherapie und Beratung, Nr. 1&2, 2017
Rezension von Günter Dietrich
Dieser im November 2016 neu erschienene Sammelband mit den
wichtigsten Schriften Raoul Schindlers wurde von einer Gruppe von
sieben Personen initiiert, herausgegeben und eingeleitet: Christina
Spaller, Konrad Wirnschimmel, Andrea Tippe, Judith Lamatsch, Ursula
Margreiter, Ingrid Krafft-Ebing und Michael Ertl. Die Zielsetzung
für dieses Projekt, dessen dreijährige Vorlaufzeit noch die
Einbeziehung und Absprache mit dem im Mai 2014 verstorbenen Autor
Raoul Schindler ermöglichte, legen die Herausgeberinnen mit vier
Motiven offen: 1) Die Würdigung des Schaffens von Schindler, der
über die Psychoanalyse und die Gruppendynamik hinaus vielfältige
Verdienste erworben hat. 2) Das zugänglich Machen wichtiger
Originaltexte, die aufgrund ihrer lange zurückliegenden Publikation
heute teils schwer auffindbar wären. 3) Das Erinnern an die
gesellschaftspolitische Relevanz von Schindlers Werk sowie 4) die
Eröffnung eines weiterführenden Dialogs mit Blick auf die Gegenwart
und ihre Herausforderungen. Implizit steckt darin natürlich auch
eine generative Motivation – das Werk eines Autors an die nächste
Generation weiterzugeben, der es wert ist, im Gedächtnis der
Menschen und insbesondere der sozial- und
gesundheitswissenschaftlichen scientific communities bewahrt zu
bleiben.
Der Band ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil ist im Sinne
einer Einführung der Person und dem Denken Raoul Schindlers
gewidmet. Judith Lamatsch, Tochter des Au-tors, und Andrea Tippe
leiten mit einer Biographie, die nach wichtigen Lebensetappen
gegliedert ist, ein. Andrea Tippe, Christina Spaller und Ursula
Margreiter skizzieren anschließend die Entwicklung der
Gruppendynamik in Österreich mit dem Untertitel »Schindler im
Feld«. Schließlich, im Sinne einer theoretischen Einführung in die
Arbeit Schindlers, bringen Konrad Wirnschimmel und Christina
Spaller mit dem kurzen Abriss »Im Zentrum die Gruppe« Schindlers
Gruppenverständnis auf den Punkt.
Der zweite Abschnitt bildet den Hauptteil des Bandes. Hier werden
gut lektoriert die gesammelten Originaltexte Schindlers zugänglich
gemacht. Die Herausgeberinnen gliedern diese in fünf Perioden, die
in der gewählten Form gut nachvollziehbar sind und den
unterschiedlichen Richtungen der Arbeiten so einen passenden Rahmen
verleihen. Diese Perioden sind: 1952–1956 Arbeiten zur bifokalen
Familientherapie, 1957–1963 Publikationen zur Rangdynamik,
1966–1978 werden unter dem Titel »Reform und Gesellschaft: Omega«
Arbeiten mit gesellschaftsbezogenen und
psychotherapeutisch-sozialpsychiatrischen Schwerpunkten
zusammengefasst, für die Jahre 1986–1993 folgt das Kapitel »Soziale
Vision und Institutionalisierung: Macht«, das auf
Organisationsprozesse und Machtphänomene fokussiert, abschließend
für die späten Jahre der Abschnitt »Lehren und Weitergeben:
Vermächtnis« für die Zeitspanne 2002–2008. Abgerundet wird diese
Ausgabe der »Ausgewählten Schriften« durch den Anhang als dritter
Teil des Buches. Hier findet sich ein kurzes Glossar zu
Kernbegriffen der Schindlerschen Theorie, beginnend mit »b« wie
»bifokale Familientherapie« bis hin zu »Ü« wie »Übertragung«, die
jeweils anhand von Originalzitaten des Autors beschrieben werden.
Weiters folgen Lebenslauf und Werkverzeichnis des Autors und eine
abschließende Übersicht zu den Herausgeberinnen dieses Bandes.
Für die Leserinnen bedeutet diese Schriftensammlung einen Zugang zu
wichtigen Arbeiten der Gruppendynamik und der
Gruppenpsychotherapie, die sonst – wie eingangs angesprochen – wohl
zumeist nur schwer auffindbar wären. Es entstehen Einblicke in das
Denken und in die Arbeitsweise Raoul Schindlers, die auch heute für
unser fachliches Verständnis wichtig und fruchtbringend sind. In
der Vielfalt der Texte finden sich echte Klassiker, die den
Charakter von »Meilensteinen« haben, wie etwa der berühmte Aufsatz
»Grundprinzipien der Psychodynamik in der Gruppe«, der das
einflussreiche Modell der Rangdynamik einem weiten Leserinnenkreis
bekannt gemacht hat. Andere Schriften zeigen mehr zeitgebundenen
Charakter, wie etwa der Vortrag »Wie viel Krankheit braucht die
Psychotherapie?«, der 1992 erstveröffentlicht inhaltlich an Fragen
um das in dieser Zeit eben etablierte österreichische
Psychotherapiegesetz anschließt, das ja die Krankenbehandlung auch
für nichtärztliche Psychotherapeutinnen neu definiert hat. Der
Autor beantwortet seine selbstgestellte Frage nach dem benötigten
Ausmaß von Krankheit für die Psychotherapie in einer
differenzierten Argumentation schließlich pointiert mit »bisweilen
auch gar keine«. Man kann hier den Vergleich zu Freuds Aufsatz »Die
Frage der Laienanalyse« von 1926 ziehen, der ebenfalls, in einem
zeitgeistbewegten Hintergrund verwoben, Gedanken von bleibenden
Wert formuliert.
Besondere Anerkennung verdienen die sieben Herausgeberinnen für die
Sorgfalt bei der Erstellung dieses Bandes. Die dreijährige Laufzeit
des Publikationsprojektes hat ein schönes Ergebnis erbracht, das
zugleich als Erfolg des Faktors »Gruppe« gesehen werden kann – eben
was Synergie in einem Team möglich macht. »Das lebendige Gefüge der
Gruppe« ist ein lesenswerter Sammelband, der den Autor Raoul
Schindler (wieder) einer neuen Generation des Fachpublikums
zugänglich macht. Primär angesprochen sind sicherlich Leserinnen
aus der gruppenpsychotherapeutischen Profession, Beraterinnen und
Praktikerinnen in den Methoden Gruppendynamik und
Gruppenpsychoanalyse sowie wissenschaftlich interessierte Personen
aus den Sozial-und Gesundheitswissenschaften. Besonders für diese
ist es wertvoll, nicht alleine auf Sekundärliteratur angewiesen zu
sein, die Modelle und Gedanken oft verkürzt und nicht immer richtig
wiedergibt. Zum Schluss soll in dieser Buchbesprechung noch eine
Leseempfehlung für alle jene ausgesprochen werden, die dem von
Raoul Schindler gegründeten ÖAGG – dem Österreichischen
Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik – nahestehen.
Dies deshalb, weil der Band in den behandelten Themenstellungen
idealtypisch die Arbeitsschwerpunkte des ÖAGG repräsentiert:
Psychotherapie und Beratung mit den Schwerpunkten auf den sozialen
Ebenen von Gruppe, Organisation und Gesellschaft.