Rezension zu Klinisches Notizbuch

Psychoanalyse im Widerspruch, Nr. 56, Heft 2, 2016

Rezension von Ludwig Janus

Das klinische Notizbuch von Tilmann Moser gibt im Hauptteil unter dem Titel »Theoretische Überlegungen« eine Fülle von Stellungnahmen zu verschiedenen Problemfeldern in der Psychotherapie und in der Psychoanalyse, die thematisch durch die innere Linie zusammen gehalten werden, die psychotherapeutische Situation entsprechend den Entwicklungsbedürfnissen und Konfliktkonstellationen des Patienten zu gestalten und dabei therapeutische Erfahrungen und Techniken aus verschiedenen therapeutischen Schulen zu integrieren, die zwar überwiegend aus der Psychoanalyse hervorgegangen sind, aber doch eigenständige therapeutische Techniken entwickelt haben, wie die Körperpsychotherapie, die Gestalttherapie, Psychodrama, konzentrative Bewegungsenergie und andere. Dabei ist die psychoanalytische Körperpsychotherapie wohl der wichtigste Bezugspunkt, zu deren Entwicklung Moser mit seinen Büchern und Fallgeschichten ja selbst wesentlich beigetragen hat. Der zweite kleinere Teil des Buches gibt neun Fallgeschichten. Ich will zunächst den ersten Teil besprechen.

Aus den insgesamt 38 Stellungnahmen und Problemskizzen will ich einige beispielhaft herausgreifen. In den ersten Beiträgen geht es um systematischere Fragestellungen, wie sie sich in den Titeln spiegeln: »Für eine Ethik der Berührung in der Psychotherapie« oder »Psychoanalyse und Körperpsychotherapie«. Der erstgenannte Beitrag verdeutlicht, dass heute auf dem Hintergrund von vieljährigen Erfahrungen die Fragen einer Berührung in der therapeutischen Situation sehr reflektiert und auf hohem Niveau verhandelt werden können. Das gilt auch für das Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Körperpsychotherapie, die sich über viele Jahre weitgehend getrennt entwickelten. So gibt es heute fundierte Übersichten über die psychoanalytische Körperpsychotherapie, wie etwa von Geißler, Heisterkamp, Geuter unter anderen und eben auch die Darstellungen der praktischen Anwendung in Fallgeschichten von Moser selbst.

Ein Hauptargument für die Einbeziehung der Erfahrungen und Techniken anderer Schulen besteht darin, dass die therapeutische Situation hierdurch den spezifischen Bedürfnissen und Möglichkeiten eines Patienten entsprechend gestaltet werden kann, wie Moser dies in mehreren Beiträgen plastisch erläutert. Er bezeichnet sein Vorgehen dabei als »szenische Arbeitsweise«, die dem frühen vorsprachlichen Erleben entwicklungspsychologisch entspricht. Dabei können sich frühe intensive Affekte unmittelbar in der therapeutischen Situation zeigen und dadurch integrierbar werden. Dadurch ist es auch besser möglich, auch therapeutische »Verstrickungen« durchsichtig und auflösbar zu machen. Moser plädiert also für eine große Flexibilität in der Gestaltung des therapeutischen Settings, je nach den Bedingungen des Patienten und natürlich auch des Therapeuten. Der Gewinn eines solchen Vorgehens kann eine größere Vollständigkeit des therapeutischen Prozesses sein als dies bei einem rein methodenbezogenen Vorgehen möglich ist, bei dem die konzeptuellen Vorgaben auch den Rahmen dessen bestimmen, was sich in der therapeutischen Situation darstellen kann. Die Gefahren eines solchen flexibleren Vorgehens im Sinne einer Beliebigkeit der Interventionen und eines Verlustes der Grundlinie des therapeutischen Prozesses können heute auf hohem Niveau reflektiert werden und finden in einem psychoanalytisch orientierten Grundverständnis und einer beständigen gewissenhaften Gegenübertragungsanalyse ein wirksames Korrektiv.

Konnte es früher häufig zu polarisierenden Konfrontationen insbesondere zwischen Psychoanalyse und Körperpsychotherapie kommen, so besteht heute eine neue Situation: Die Dimension des körperlichen Erlebens ist in der Psychoanalyse etwa mit den Konzepten des »enactments« und einer körperbezogenen Gegenübertragungsanalyse ein viel selbstverständlicherer Bezugspunkt als früher und insbesondere in der psychoanalytischen Körperpsychotherapie, wie sie von Moser vertreten wird.

In den neun Fallgeschichten am Ende des Buches demonstriert Moser noch einmal die Weite seiner therapeutischen Wahrnehmung. So handelt ein Beispiel unter dem Titel »Die Entdeckung der depressiven Mutter« von der Einfühlung eines Patienten in die Situation der Mutter in seiner Schwangerschaft, was eine intuitive Einsicht in das eigene Ungewolltsein ermöglichte. Die szenische Gestaltung des therapeutischen Settings bringt erstaunliche Tiefeneinsichten und zeigt überhaupt, dass das intuitive Verstehen tiefer in den vor- sprachlichen Bereich reicht als allgemein angenommen wird.

Durch Mosers Bücher mit den ausführlichen Fallgeschichten fühlen sich immer wieder Patienten sehr angesprochen und suchen ihn nach gescheiterten Psychotherapien und Psychoanalysen auf. Dadurch hat Moser einen ungewöhnlichen Einblick in die verschiedensten Schwierigkeiten von psychotherapeutischen Verläufen.

Letztlich knüpft das Buch an eine ganz alte Diskussion in der Psychoanalyse an, wie sie in den 1920er Jahren von Ferenczi und Rank mit ihrem Buch »Entwicklungsziele der Psychoanalyse« (1924) initiiert wurde und dann mit Ranks »Technik der Psychoanalyse« (1926, 1928, 1931) und mit Ferenczis »Klinischem Tagebuch« (1932), an das Moser vor allem anknüpft, fortgesetzt wurde. Wesentliche Eckpunkte waren damals das »analytische Erlebnis« von Rank und seine Aussage, dass er eigentlich für jeden Patienten eine Behandlung neu erfinden müsse, und des Weiteren die Unmittelbarkeit der Präsenz des frühen Erlebens in der therapeutischen Situation bei Ferenczi des ersten Lebensjahres und bei Rank auch der Zeit vor und während der Geburt.

Hier brach die Diskussion ab, bzw. wurde dann in relativ abstrakter und deutungsorientierter Form von Melanie Klein und Bion fortgesetzt. Für diese Umwege in der Tradition wird man wohl die große Körperfremdheit in den 1920er Jahren und später verantwortlich machen.

Insgesamt führt die Lektüre der verschiedenen therapeutischen Beispiele in dem Buch zu der Schlussfolgerung, dass hier in Bezug auf die patientenbezogenen flexible Gestaltung des therapeutischen Settings eindringlicher Diskussionsbedarf besteht. Deshalb wünsche ich dem Buch eine breite Rezeption.

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