Rezension zu Geschlechtliche Vielfalt (er)leben

Bulletin-Info. Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien, Nr. 54, 2017

Rezension von Christin Schörk

Bei der Veröffentlichung »Geschlechtliche Vielfalt (er)leben« handelt es sich um eine Sammlung von Redebeiträgen des gleichnamigen Weimarer Kongresses von 2015, herausgegeben als Handreichung für v.a. Pädagog*innen, Lehrer*innen und Psycholog*innen. Das Buch ist in der Reihe »Angewandte Sexualwissenschaft« erschienen, die in ihrer Themenauswahl den Fokus auf einen interdisziplinären Austausch zwischen wissenschaftlichen Institutionen und Vertreter*innen aktivistischer Praxisprojekte legt.

Das breite Themenspektrum des Kongresses – von sozialwissenschaftlichen Untersuchungen bis hin zu aktuellen politischen Diskursen um geschlechtliche Vielfalt – findet sich auch im Aufbau des Buches wieder. Das Einstiegskapitel stellt eine empirische Studie zum Mitteilungsverhalten von Trans*Kindern bzgl. ihrer geschlechtlichen Identität vor, wobei für den Autor v.a. folgende Aspekte im Fokus standen: Inwiefern nehmen sich die Befragten Freiraum zum Ausleben der eigenen Identität? Welche Signale zum Outen einer Trans*ldentität werden wann und an wen ausgesandt? Und wie häufig werden sowohl »normabweichendes« Verhalten als auch die eigene Geschlechtsidentität bis ins Erwachsenenalter unterdrückt bzw. verborgen?

Hieran knüpft inhaltlich ein Beitrag zur Vorurteilsbildung und Verbreitung von Stereotypen an, insbesondere in Bezug auf Homo- und Trans*Phobie. Zwei Befragungen an repräsentativen Stichproben verdeutlichen die bestehenden Vorurteile und das fehlende Wissen über Trans*Lebensweisen. Die Ausbildung von Vorurteilen wird hier u. a. durch den Hang zur Bildung sozialer Kategorien oder das Streben nach eigenem positiven Selbstwert erklärt. Besonders bzgl. Trans*Phobie sieht der Autor aber auch gesellschaftliche Geschlechternormen und einen »Need for Closure«, das Bedürfnis nach schnellen und unveränderlichen Entscheidungen, als einflussreich an. Gleichzeitig bietet der Beitrag auch Interventionsmöglichkeiten zum Abbau bestehender Vorurteile gegenüber Trans*Geschlechtlichkeit an und nimmt dabei insbesondere Kinder- und Jugendeinrichtungen in die Verantwortung. Besprochen werden bspw. Möglichkeiten, um Kontakt und Sichtbarkeit zu schaffen, Mobbing und Diskriminierung zu ächten oder Geschlechternormen zu hinterfragen.

Auch durch Aufklärungsprojekte können Vorurteile gegenüber LGBTIQ* abgebaut werden, sodass sich ein weiteres Kapitel mit der Evaluation entsprechender Workshops in Deutschland befasst. Die durchgeführte Studie wertet mittels qualitativer Inhaltsanalysen den Onlineauftritt von 45 Projekten hinsichtlich deren Inhalten, Zielen und Methoden aus. Demnach sind an der Mehrheit der in Deutschland durchgeführten Aufklärungsprojekte Trans*Personen selbst beteiligt und in dreiviertel der Workshops wird Trans*Geschlechtlichkeit explizit behandelt. Im Fokus der Durchführenden stand mehrheitlich, Einstellungen und Verhalten gegenüber Trans* zu verbessern und die Wirkung von biografischen Inhalten, bspw. zum eigenen Coming-Out oder persönlichen Diskriminierungserfahrungen, zu untersuchen. Eine Evaluation zur Klärung weiterer Aspekte und inwiefern die Workshops tatsächlich Homo- und Trans*Phobie abbauen können, ist bereits in Planung.

Weiterhin bietet das Buch konkret für die Soziale Arbeit konzipierte Zugänge und Anregungen zum Thema Trans*. Ein Kapitel stellt in erster Linie die Empfehlungen europäischer Ethikkommissionen bzgl. Geschlechtsbestimmender Behandlungen kritisch in den Fokus. Davon abgeleitet diskutiert der Autor die Verantwortung von Beratungs- und Bildungsarbeit bei der Aufklärung, Unterstützung und Begleitung Trans*- und lnter*Geschlechtlicher sowie ihrer Eltern, aber auch Möglichkeiten, um diesbezüglich mehr gesellschaftliche Offenheit zu schaffen.

Ein weiteres Kapitel ordnet diese Aspekte in eine körperbiologische Perspektive ein. Der Autor bietet einen evolutionsgeschichtlichen Abriss der chromosomalen Entwicklung von Geschlecht und Geschlechtsidentität, um damit zu einem medizinethischen Diskurs überzuleiten. Unter Einbezug rechtlicher Normen wie dem Personenstands- oder dem Transsexuellengesetz werden in diesem Zusammenhang Fragen nach der Grenze zwischen geschlechtszuordnenden und -vereindeutigenden Maßnahmen, der Ausgestaltung therapeutischer Fachberatungen oder der Rolle von Elternautonomie und Dispositionsbefugnis Minderjähriger aufgeworfen.

Ebenso erhalten die Leser*innen durch das Buch Einblick in den Prozess der Erarbeitung einer medizinischen Leitlinie, speziell zur bislang unveröffentlichten S3-Leitlinie »Geschlechtsdysphorie«, die auf Grundlage von Betroffenenerfahrungen Richtlinien zur medizinischen Betreuung Trans*Geschlechtlicher während des operativen Transitionsprozesses gibt.

Dem Thema Geschlechtlichkeit wird sich aber auch auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene genähert, bspw. über eine juristische Perspektive. Zwei Autor*innen betrachten kritisch, wie v.a. Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit über das Rechtssystem konstituiert und stabilisiert werden. Gleichzeitig werden Lösungsstrategien dieses strukturellen Dilemmas sowie deren jeweilige Probleme und Vorzüge diskutiert: Eine »Entgeschlechtlichung« des Rechts würde Kategorisierungen mit Diskriminierungspotenzial abbauen, hätte damit aber keinen Ansatzpunkt mehr, um tatsächlich existierende Benachteiligungen zu verhindern. Dies kann hingegen durch eine Ausdifferenzierung von Geschlecht im Recht geleistet werden, was jedoch ein negativ-stereotypes Verständnis von Binarität reproduzieren und unzumutbare Ausschlüsse verursachen würde.

Schließlich widmet sich ein Kapitel dem Thema sexueller Bildung sowie Konzepten zur Prävention sexualisierter Gewalt und greift dabei aktuelle politische Entwicklungen um Rechtsextreme und die »Alternative für Deutschland« (AfD) auf. Besorgt betrachtet der Autor die Instrumentalisierung von Fragen zur Gleichstellung von Frauen oder zur Anerkennung sexuell geschlechtlicher Vielfalt, um »besorgte Bürger*innen« als Wählerinnen zu gewinnen. Gleichzeitig werden hier auch intersektionale Ansätze für die Sexualwissenschaft erörtert und in Beziehung zu den Übergriffen der Kölner Silvesternacht 2015/16 sowie deren rassistischer Medialisierung gesetzt. Daher sollten den Initiativen, Erfahrungsberichten, Aufklärungsprojekten oder Onlinematerialien von People of Color zu sexueller Bildung zukünftig umso mehr Aufmerksamkeit zukommen, um der Verbreitung rechtspopulistischen Gedankenguts mithilfe intersektionaler Pädagogik entgegenzuwirken.

Die verständlich geschriebenen und immer wieder aufeinander Bezug nehmenden Kapitel überzeugen v.a. dadurch, dass sie Mitarbeiterinnen aus der Bildungs- und Sozialarbeit, in Schulen oder anderen öffentlichen Einrichtungen durchgängig direkt in die Verantwortung einbeziehen, um Vorurteile und Stereotypen gegenüber Trans* und Inter* abzubauen. Ergänzt wird dies durch umfassende weiterführende Aufklärungs- und Arbeitsmaterialien, wie diverse Literatur, Links zu Onlineprojekten oder konkrete Weiterbildungsangebote. Der Bezug zu sowohl aktuellen gesellschaftlichen Debatten als auch historischen Diskursen bleibt dabei stets präsent und auch zentrale Konzepte der Diskriminierungsforschung, wie Intersektionalität oder Wissenschaftskritik, werden angeschnitten. Darüber hinaus räumt die Publikation auch dem unermüdlichen Einsatz trans*- und inter*geschlechtlicher Aktivist*innen für ihre eigenen Rechte Raum ein.

Gleichzeitig unterstützen die im Buch vorgestellten Studien stellenweise – auch in Bezug auf Trans* – bestehende Geschlechtsstereotype, z.B. durch Formulierungen wie Trans*Jungen konnten sich einen bestimmten Freiraum ›erkämpfen‹, Trans*Mädchen hingegen waren ›nicht mutig genug‹ oder hätten sich ›nicht getraut‹. Weiterhin legen einige Beiträge ihren Fokus auf normative Konzepte ›gelungener‹ oder ›gesunder‹ Entwicklung, Begrifflichkeiten, die als problematisch einzuschätzen sind. Im Gesamten werden Trans*- und Inter*Geschlechtlichkeit als psychische »Störungsbilder« und deren diagnostische Einordnung zu wenig reflektiert und z.B. die zugrundeliegenden Konzepte und Methoden der besprochenen S3-Leitlinie nicht hinterfragt. Denkbar wäre außerdem, Trans*- und Inter*Phobie in Bezug auf ihre Verschränkung mit Rassismen, Bodyismen oder weiteren Heteronormativismen zu thematisieren und auch explizit für eine Einbindung trans*- oder inter*geschlechtlicher Personen in den Prozess der Bildungsarbeit zu plädieren.

Auch wenn die Autor*innen selbst nicht in der Sozialpädagogik oder Sozialarbeit tätig sind, erlauben die Beiträge des Buches einen wichtigen und vielgestaltigen Einblick in die Lebenssituation von Trans*- und Inter*Personen, aber auch in die Herausforderungen der Arbeit pädagogischer Handlungsfelder, um die Gesellschaft für mehr geschlechtliche Vielfalt zu öffnen. Insbesondere durch die zahlreichen konkreten Ansatz- und Interventionsmöglichkeiten, die dabei angeboten werden, ist die Publikation auch für Leser*innen abseits der adressierten Tätigkeitsbereiche durchweg lohnend.


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