Rezension zu Migration und Rassismus
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Rezension von Jos Schnurer
Humanität statt Menschenfeindlichkeit
Im anthropologisch-philosophischen Diskurs wird der anthrôpos, der
mit Vernunft ausgestattete, zwischen Gut und Böse
unterscheidungsfähige und zur Bildung von Allgemeinurteilen
befähigte Mensch in die oberste Stufe der scala naturae
eingeordnet. Bei seinem Streben nach einem guten, gelingenden Leben
soll er sowohl seine individuellen Bedürfnisse erfüllen, als auch
gleichzeitig die Verantwortung für den Mitmenschen erkennen und
leben können. Diese Idealvorstellung vom Menschsein zeigt sich in
der Conditio humana, wie sie sich in der Wollens- und
Sollensvorstellung des Menschseins als bewusste und aktive
Erkenntnis darstellt und in Verhaltensregeln zum Ausdruck kommt;
etwa im Kantischen Kategorischen Imperativ, der sich
alltagssprachlich ausdrückt in der Einstellung: »Was du nicht
willst das man dir tu’, das füg’ auch keinen andern zu!«. Weil aber
menschliches Denken und Handeln vielfach von dieser
Idealvorstellung abweicht, haben die Philosophen immer auch die
Frage gestellt: »Ist der Mensch des Menschen Lamm oder Wolf?«.
Interessant bei dieser kontroversen Fragestellung ist, dass die
letztere Kennzeichnung, dass der Mensch des Menschen Feind sei,
ursprünglich in einem komödiantischen Spiel in der Antike getroffen
wurde; vom römischen Dichter Titus Maccius Plautus (ca. 254–184 v.
Chr.), verbunden mit dem Zusatz, der Mensch sei nur solange ein
Homo homini lupus, »solange man sich nicht kennt« (Artur
Brückmann). Diese in der Philosophie immer wieder verständlich und
missverständlich aufgenommene Charakterisierung, etwa auch von
Thomas Hobbes (1588 – 1679), zieht sich wie eine Blutspur durch die
Menschheit. Sie hat in der Menschheitsgeschichte zu Verbrechen,
Kriegen und gewaltsamen Konflikten geführt; und sie zeigt sich bis
heute in rassistischen, fremdenfeindlichen und menschenverachtenden
Aktivitäten.
Entstehungshintergrund und Herausgeberteam
In der sich immer interdependenter, räumlich und virtuell
entgrenzenden (Einen?) Welt tritt ein Phänomen zutage, das bei der
Entwicklung der Menschen als unabdingbarer und förderlicher Prozess
verstanden wird: Der anthrôpos ist zum Homo sapiens durch seine
Anpassungs- und Veränderungsfähigkeit geworden. Es sind die
Wanderungsbewegungen, die den Menschen zum Homo migrans gemacht
haben. Insoweit ist Migration ein natürliches Lebensmuster, solange
sich der Mensch aus eigenem Antrieb, kraft seiner
Überlebensfähigkeit, seiner Neugier, seines Mutes und seiner
Kreativität auf den Weg macht, seine angestammte Heimat verlässt,
um anderswo, in der Fremde neue Lebensperspektiven zu finden. Dort,
wo Wanderung zur Flucht wird, sind die Ursachen andere: Wenn
Menschen fliehen, weil sie z. B. wegen des Klimawandels und
Umweltkatastrophen dort, wo sie bisher lebten, keine
Lebensmöglichkeiten und -perspektiven sehen, weil sie wegen
politischen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt und bedroht
werden, weil sie wegen Krieg und gewaltsamen Auseinandersetzungen
um ihr Leben fürchten müssen, greifen andere humane Grundlagen;
etwa das Menschenrecht auf Asyl, wie es in der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948
unmissverständlich und nicht relativiert in Artikel 14 postuliert
wird: (1) Jedermann hat das Recht, in anderen Ländern vor
Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.
In der öffentlichen, politischen Wahrnehmung wird unsere Zeit als
»Jahrhundert der Flüchtlinge« bezeichnet. Nach der Statistik der
Vereinten Nationen befinden sich derzeit weltweit rund 65 Millionen
Menschen auf der Flucht. Die Mehrheit der Flüchtlinge sucht
Sicherheit in anderen, sichereren Regionen ihres Landes, oder in
den angrenzenden Gebieten und Ländern. Nur einem Bruchteil von
ihnen, weniger als zwei Prozent, gelingt es, nach Europa zu kommen;
und das auf lebensgefährlichen Routen, durch die Wüste und übers
Mittelmeer. Die Flüchtlinge kommen aus Afrika und Asien. Es wird
geschätzt, dass seit 2000 mehr als 30.000 Menschen ihr Fluchtwagnis
mit dem Leben bezahlt haben. Viele EU-Staaten schotten sich durch
Zäune und Mauern ab, sind administrativ oder institutionell bei der
Aufnahme von Flüchtlingen überfordert. Die Tendenzen, durch
populistische und fremdenfeindliche Politik egoistische und
nationalistische Interessen in den Vordergrund zu stellen, nehmen
zu. Relativierungen des Rechts auf Asyl werden vorgenommen. Die
Situation, dass beim Staats- und Regierungshandeln in den
europäischen Ländern immer mehr das Zweckdenken und immer weniger
Empathie vorherrschen, macht Politik zu ego- und ethnozentrischer
Macht. Der Filmemacher Gordian Troeller (1917 – 2003) hat einmal
gesagt: »Wissen ohne Gewissen kann nur zerstörerisch wirken«.
»Das Feuer, das die intellektuellen Brandstifter in Deutschland
durch islamophobe Hetze gegen MigrantInnen gelegt haben«, lodert
überall in Europa und in der Welt. Diejenigen, die es mit viel
Mühe, nicht selten unter Lebensgefahr und mit Hilfe von kriminellen
Schlepperorganisationen geschafft haben, die Grenzen und Mauern um
Europa herum zu überwinden und ein Asylbegehren stellen können,
müssen oft lange warten, um entweder einen positiven Bescheid, oder
eine Ablehnung zu erhalten. Allzu viele Flüchtlinge werden
abgeschoben in für sie unsichere Länder oder Regionen. Ohnmacht auf
der einen und Hegemonie und Macht auf der anderen Seite bestimmen
die Situation in der europäischen Einwanderungs-, Migrations- und
Abschottungspolitik. Die Leidtragenden sind meist die Leidenden und
Hilfsbedürftigen (Hans-Peter Schwarz, Die neue Völkerwanderung nach
Europa, Über den Verlust politischer Kontrolle und moralischer
Gewissheit, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22392.php; sowie:
Jochen Oltmer, Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart,
2017, www.socialnet.de/rezensionen/22491.php).
Mit diesen Dilemmata hat sich auch der vom 3. – 6. März 2016 von
der »Neuen Gesellschaft für Psychologie« (NGfP) in Berlin
veranstaltete Kongress »Migration und Rassismus. Zur Politik der
Menschlichkeit« auseinandergesetzt. Der an der Freien Universität
in Berlin tätige Psychoanalytiker, Wissenschaftler und erster
Vorsitzender der NGfP, Klaus-Jürgen Bruder, und der Psychologe und
stellvertretende Vorsitzende Christoph Bialluch geben den
Tagungsband des Kongresses heraus. Viele Flüchtlinge, die in
Deutschland und anderen europäischen Ländern ankommen, sind
traumatisiert, und sie leiden an der individuellen und
gesellschaftlichen sozialen Kälte (Ernst-Ulrich Huster, Soziale
Kälte. Rückkehr zum Wolfsrudel?, 2016,
www.socialnet.de/rezensionen/21666.php). Diese Situation fordert
auch PsychologInnen, PsychotherapeutInnen, SozialpädagogInnen und
andere, Sozial-, Moralisch- und Empathisch-Engagierte in besonderer
Weise heraus. 22 ExpertInnen thematisieren und informieren über
ihre Arbeit, verweisen auf gelingende Fälle und auf Defizite und
Fehlentwicklungen. Daraus ergibt sich ein weiterer Baustein für ein
Gebäude, das noch nicht gebaut, aber deren Errichtung dringend
erforderlich ist.
Aufbau und Inhalt
Der Sammelband wird in mehrere Kapitel gegliedert:
Im ersten Teil werden »Verortungen« thematisiert.
Im zweiten geht es um »Fluchthintergründe«.
Im dritten um »Kolonialismus und Rassismus«.
Im vierten werden »Formen der Diskriminierung« aufgezeigt.
Im fünften Kapitel schließlich werden mit »Prekäres Ankommen /
Traumatisierten helfen« psychologische, psychoanalytische und
sozialpädagogische Konzepte und Methoden vorgestellt und
Erfahrungen aus der Praxis der Flüchtlingsbetreuung vermittelt.
Klaus-Dieter Bruder beginnt mit seinem Beitrag »Der Krieg trägt
seine Früchte – zu uns. Erstaunt stellen wir fest: Es sind
Menschen«. Er geht hart mit den individuellen und
gesellschaftlichen Imponderabilien und Wirklichkeiten zu Gericht
und lässt keinen Zweifel daran, wo die Ursachen von Vertreibung,
Flucht und Flüchtlingstragödien zu suchen sind: »Es ist der
Kapitalismus, dessen Spesen-Rechnung wir jetzt präsentiert
bekommen, dessen Kosten wir jetzt zahlen«.
Der iranisch-deutsche Germanist und Schriftsteller Bahman Nirumand
deckt mit seinem Beitrag »Die Flüchtlinge und der Westen«
zahlreiche machtpolitische, hegemoniale und ethnozentrierte
Entwicklungen auf, deren Folgen sich in den weltweiten
Fluchtbewegungen zeigen. Es sind Menschen, »deren Lebensgrundlage
durch Dumpingpreise für Agrarprodukte, durch Umweltkatastrophen und
Folgen der Globalisierung zerstört worden ist«. Nur ein radikaler,
individueller, lokaler und globaler Strategiewechsel kann die
Ursachen beseitigen.
Der Journalist Jürgen Voges geht mit seinem Beitrag »Vom
Vereinigungsnationalismus bis zum Konflikt um die
Willkommenskultur« den parteipolitischen Aktivitäten und
Forderungen nach Grenzschließung, Begrenzung der Flüchtlingszahlen
und der zunehmenden Abschiebepraxis auf den Grund und verdeutlicht
an den parteipolitischen Trixereien und Klüngeleien die
ideologischen, eskalierenden fremdenfeindlichen Entwicklungen in
der deutschen Politik.
Die Publizistin, Bundestagsabgeordnete der Partei DIE LINKE, Ulla
Jelpke, übt »Kritik an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung«.
Den offiziellen Signalen »Abschreckung, Abschottung und
Abschiebung« und der »Anti-Asyl-Politik« stellt sie die Forderungen
gegenüber, »dass für Flüchtlinge oder Flüchtlingsgruppen geltende
diskriminierende Sondergesetze aufgehoben werden und eine
Sozialpolitik betrieben wird, die niemanden ausgrenzt«.
Die Berliner Psychoanalytikerin und Consultant für nationale und
internationale, interkulturelle Aufgaben, Elisabeth Rohr, nimmt das
humane Thema »Kinder auf der Flucht« auf und spricht von einer
»Traumatisierung einer Generation« (vgl. dazu auch: Alexander
Denzler / Stefan Grüner / Markus Raasch, Hrsg., Kinder und Krieg.
Von der Antike bis in die Gegenwart, 2016,
www.socialnet.de/rezensionen/21666.php). Rohr kritisiert die
einseitig, emotional einseitig aufgeheizte und ideologisierte
Debatte um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland
und plädiert für »kultursensible, diversitäts- und
vorurteilsbewusste pädagogische und psychosoziale Beratungen und
Betreuungen«.
Der Hamburger Pädagoge und Unternehmensberater Franz Witsch fragt:
»Erzeugt der Kapitalismus das Flüchtlingsproblem?«. Er macht
deutlich, dass in der deutschen und europäischen Einwanderungs- und
Flüchtlingspolitik »Abreaktionen anstatt Ursachenanalyse«
vorherrschen. Mit seiner Neoliberalismus- und Kapitalismuskritik
verweist er auf das Grundübel, dass im Kapitalismus Geld und
Mehrwert privatisiert werden. Sein Vorschlag: »Geld zu einem
öffentlichen Gut machen, zu dem es dann keinen privilegierten
Zugang mehr geben dürfte«. So kommt er zu dem Ergebnis, »dass
soziale Konflikte, wie etwa das Flüchtlingsproblem, primär
ökonomisch … (systembedingt) durch den Kapitalismus verursacht
sind«.
Der an den Universitäten und Kliniken in Klagenfurt, Innsbruck,
Bozen und Hamburg tätige österreichische Sozialpsychologe Josef
Berghold spießt mit seinem Beitrag »Fremdenfeindlichkeit und
Klimakatastrophe als Ausdruck einer ›perversen Kultur‹« die erst
einmal nicht deutlich sichtbaren und wahrnehmbaren Zusammenhänge
auf. Er setzt sich mit den traditionellen und aktuellen
»Klimaverleugnungen« auseinander und deckt die verschiedenen
»›perversen‹ Formen« der (Nicht-) Kenntnisnahme und verschobener
Wahrnehmung von Tatsachen auf. »Dieser Teufelskreis von Verleugnung
und Verschärfung führt auch dazu, dass die durch ihn angeheizten
Ängste sich zunehmend an ›verschobenen‹ … Objekten festmachen, die
jenseits jeder Glaubhaftigkeit als ausufernd bedrohlich phantasiert
werden«.
Der Schweizer Pädagoge Kurt Gritsch greift mit seinem Beitrag
»Krieg und Migration« die ökonomischen, geopolitischen und
geostrategischen Interessen auf, die sich hinter der westlichen
Militärintervention in Libyen 2011 verbergen. Er zeigt an mehreren
Beispielen auf, dass Krieg und Wirtschaft wesentliche
Migrationsfaktoren bedeuten, die in der aktuellen, alltäglichen,
gesellschaftlichen und politischen Situation im Land und als
Durchgangsstation für Flüchtlinge deutlich sichtbar sind.
Die Sozialwissenschaftlerin Raina Zimmering stellt mit ihrem
Beitrag »Migration in Lateinamerika. Ursachen und Auswirkungen«
ihre wissenschaftlichen Erfahrungen vor (vgl. auch: Raina
Zimmering, Zapatismus. Ein neues Paradigma emanzipatorischer
Bewegungen, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10557.php). Sie
zeigt die wesentlichen Push- und Pull-Faktoren auf und sieht in der
»neoliberalen Globalisierung mit seinen Umweltzerstörungen, der
Ausbreitung von Armut und Gewalt und des Machtzuwachses der großen
transnationalen Unternehmen« die Ursachen der Flüchtlingsbewegungen
in den mittel- und südamerikanischen Ländern.
Christoph Bialluch fragt »Gegenverkehr?«, indem er auf die
Zusammenhänge von Fliehen vor und dem Ziehen in den Krieg eingeht.
Er versteht seinen Versuch zu ergründen, warum einerseits meist
junge Menschen aus Deutschland »in den so genannten ›Islamischen
Staat‹ ausreisen, um dort zu leben, zu heiraten, Kinder zu
bekommen, einen Gottesstaat aufzubauen, für ihn in den Krieg zu
ziehen und viele dort lebende Menschen in die Flucht zu treiben«.
Er nimmt diese absurde Entwicklung auf, indem er mit
psychologischen Konzepten (Lacan) und Interpretationsmustern die
Denk- und Handlungsverläufe von »Opfern« und »Tätern« analysiert
und die (verloren gegangenen oder verloren zu gehendenden) humanen
Tugenden wie Aufmerksamkeit, Empathie, Verantwortungsbewusstsein,
Leidensfähigkeit in den Blick nimmt und für eine »leidempfindliche
Politik« plädiert.
Der evangelische Theologe und Psychologe Bernd Nielsen verweist auf
Hintergründe und Wirkungen, wie sie der »gewaltförmige( r)
Kulturalismus als Konstitutivum des neoliberalen und
neokonservativen Diskurses« hervor bringt. Er setzt sich mit
ausufernden, fehlgeleiteten und politisch und kulturell gemachten
Ideologien von kulturell zentrierter Macht auseinander und verweist
auf die durch kapitalistische Machtfülle entstandenen Entwicklungen
im neoliberalen Kulturalismus. Die wie eine Monstranz oder eine
wahre Wirklichkeit den Menschen präsentierte unabänderliche und
natürliche, kapitalistische und neoliberale Ordnung gilt es als
Zerrformen und unmenschliche Systeme zu brandmarken.
Der in Fulda tätige Heilpraktiker für Psychotherapie, Manfred
Kalin, sucht mit seinem Beitrag »Der koloniale Nationalstaat als
Geburtsurkunde des Rassismus« nach den Ursachen und Wirkungen, wie
Fremdenfeindlichkeit, -hass und Xenophobie entstehen und im Alltag
und in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wirksam werden
(vgl. auch: Erhard Oeser, Die Angst vor dem Fremden. Die Wurzeln
der Xenophobie, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21874.php). Er
nimmt die erzählerischen und literarischen Erfahrungen bei der
Identitätsfindung zum Anlass, um die Kategorisierung des Fremden
und Fremdem auch damit zu verdeutlichen, »warum Kara Ben Nemsi
keinen Reisepass vorzeigen mussteq.
Der Sozialwissenschaftler von der Europa-Universität in Flensburg,
Anton Perzy, macht mit seinem Beitrag »Zu den Folgen von
Kolonialisierung und Neoliberalismus für das Innenleben«
Anmerkungen zu den psychologischen Mechanismen, Aktionen und
Reaktionen. Er zeigt auf, was sich in der Subjektkritik darstellt,
nämlich dass das Nachdenken und die stetige Auseinandersetzung mit
der eigenen Person unabdingbar für das eigene und das globale
Weltbild ist: »Eine Kritik des Kapitalismus bleibt abstrakt und
wirkungslos, geht sie nicht durch die reflektierte, eigene
Erfahrung hindurch« (vgl. dazu auch: Gabriele Jähnert / Karin
Aleksander / Marianne Kriszio, Hg., Kollektivität nach der
Subjektkritik. Geschlechtertheoretische Positionierungen, 2013,
www.socialnet.de/rezensionen/15958.php).
Die (Post-)Kolonialismus-Forscherin von der Universität in Bremen,
Eva König-Werner, setzt sich mit »Kolonialismus – im Kopf und in
den Beinen« auseinander, indem sie über die Erfahrungen von
»Kindeskinder(n) kolonialer Untertanen auf der Flucht nach Europa«
erzählt. An Beispielen von jungen Flüchtlingen aus Eritrea und den
Erinnerungen eines »Kolonisierten« aus einer ehemaligen
niederländischen Kolonie auf Java wird deutlich, dass das Wissen
der Mehrheitsgesellschaften über Entwicklungs- und
Erinnerungsstrukturen von Geflüchteten aus ehemaligen
Kolonialgebieten unzulänglich oder gar nicht relevant, für eine
adäquate Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik jedoch
erkenntnisleitend und notwendig ist.
Die Berliner Ethnologin Renate Haas nimmt den vorherigen Gedanken
auf, indem sie mit der Kennzeichnung »Historische Abspaltungen« auf
Probleme und Blockaden in der interkulturellen Kommunikation
verweist. Ein bei Migrationsprozessen häufig stattfindender
Kulturwechsel von der eigenen kulturellen Identität hin zu anderen,
meist fremden und ungewohnten Selbstverständnissen und Mentalitäten
muss als einer der größten Herausforderungen im migrantischen
Dasein der Menschen verstanden werden. Dabei stehen nicht nur die
Fetttöpfchen, in die man tritt, nur so herum, sondern es zeigen
sich auch Enttäuschungen, Verunsicherungen, Verzweiflungen und
Brüche im eigenen Selbstverständnis. Die Autorin vermittelt einige
Konzepte und Modelle, wie die gegenteiligen Reaktionen von
Willkommensbereitschaft und Ablehnung zu einem gemeinsamen, die
gesellschaftliche Integration förderlichen Gespräch finden
können.
Der Heidelberger Linguist Franc Wagner diskutiert mit seinem
Beitrag »Zur politischen Funktion sprachlicher Diskriminierung« die
alltäglichen Kategorisierungen von Personen und Sachverhalten in
den öffentlichen Wahrnehmungen und Medien. Mit zahlreichen
Beispielen zeigt sie auf, wie sprachliche zu sozialer
Diskriminierung wird. »Diskriminierungen als solche zu erkennen und
ihre Weiterverbreitung zu verhindern, ist … von großer Bedeutung,
zumal diese die gegenseitige Integration gefährden und die
Willkommenskultur beschädigen können«.
Die Berliner Kommunikationswissenschaftlerinnen Annett Schulze und
Milena Schmitz untersuchen mit dem Beitrag »Irreguläre Migration in
der deutschen Berichterstattung« den Umgang und die Darstellung im
Flüchtlingsdiskurs von ausgewählten Printmedien. Sie zeigen auf,
dass bereits Wortwahl und Begriffsbildungen die Richtung von
tendenziöser und seriöser journalistischer Berichterstattung
verdeutlichen, und sie mahnen an, dass Qualitätsjournalismus auf
Verantwortung, Wissen und kritischer Kompetenz beruht. Es kommt
darauf an, ȟber Worte und Bilder in der journalistischen
Beitragsproduktion nachzudenken, historische Auseinandersetzungen
um Worte und deren Diskriminierungen zu reflektieren und statt der
passiven Manipulation oder Zensur-Perspektive den kreativen Umgang
mit Begriffen und deren Bedeutungshorizonten in den Blick zu
nehmen«.
Die Sprach- und Literaturwissenschaftlerin Julia Stegmann, als
Bildungsreferentin bei der Opferperspektive e.V., Potsdam tätig,
thematisiert mit ihrem Beitrag »Tristesse zwischen Plattenbauten«
die Darstellung von rechter Gewalt in ausgewählten Filmen. Sie
verweist auf Zusammenhänge von Perspektiv-, Antriebs- und
Hoffnungslosigkeit auf der einen und von gemachten, gespiegelten
und ideologisierten Versprechungen auf der anderen Seite und
entwickelt Erkennungs- und Reaktionsmuster, wie mit
Rechtsradikalismus, Neonazismus und Rassismus umgegangen werden
kann.
Der Leipziger Psychiater Jan Ponesicky berichtet mit »Migration,
Rassismus und Integration« über eigene Erfahrungen »eines
emigrierten Psychoanalytikers«. Es klingt wie ein Bonmot, stellt
sich aber als eine klarsichtige Analyse dar, wenn er bei der Frage
nach den Verhältnissen in seiner ehemaligen Heimat CSSR und der BRD
antwortet: Man musste daheim schweigen, wenn man aber den Mut
hatte, etwas zu sagen, haben alle zugehört. Hierzulande darf man
alles sagen, aber niemand hört zu. Aus dieser kritischen
Einschätzung leitet er den Rat ab, dass sich zwar die Flüchtlinge
bewusst werden müssten, dass es im Gastland (möglicherweise) andere
Verhaltensnormen gibt, die sie zu berücksichtigen hätten; sie aber
nicht genötigt würden, die eigene religiöse und kulturelle
Identität aufzugeben.
Der Berliner Psychoanalytiker Christoph Seidler nimmt mit seinem
Beitrag »Vom Asyl zum transkulturellen Übergangsraum« ebenfalls die
Problematik auf, wie Integration als länger andauernder Prozess
positiv verlaufen kann. An Fallbeispielen diskutiert er die
Möglichkeiten, die eine psychoanalytische und psychotherapeutische
Begleitung anbietet.
Der Psychoanalytiker und Dozent am Berliner Jung-Institut, Uwe
Langendorf, titelt seinen Beitrag mit »To turn a blind eye«. Er
thematisiert die Schwierigkeiten und Unbegreiflichkeiten, wie sie
bei einer traumatisierten Migration auftreten. Es sind die
bekannten, vielfach wiederholten und trotzdem falschen und nicht
ernst genommenen Wahrnehmungen und Einschätzungen, welche
physischen und psychischen Folgen Fluchterfahrungen haben können.
Es gilt, sie als humane, verantwortungsbewusste Herausforderung
anzunehmen und mit empathischen und professionellen Antworten
darauf zu reagieren.
Die Psychologin Maximiliane Brandmaier ist beim Wiesbadener
Flüchtlingsrat tätig. Mit ihrem Beitrag »(Verwehrte) Anerkennung
und Handlungsfähigkeit von Geflüchteten in Sammelunterkünften«
berichtet sie über Erfahrungen in österreichischen und deutschen
Flüchtlingslagern. Sie plädiert für Anerkennungsräume, in denen
Flüchtlinge und Asylbewerber Perspektiven, Verhaltens- und
Handlungsfähigkeiten erwerben können. Sie zeigt Möglichkeiten und
Konzepte für eine betreuende soziale Arbeit auf.
Der Berliner Psychologe Boris Friele legt mit dem Beitrag
»Funktionen von PsychologInnen in der Unterstützung von
Geflüchteten mit Gewalterfahrungen« Vorschläge für die Arbeit mit
traumatisierten Asylsuchenden zwischen menschenrechtlichem
Engagement und Kompensation struktureller Mängel vor. Er setzt sich
mit den Rollenkonflikten zwischen Therapeut und institutionellem
Vertreter auseinander und zeigt professionelle Möglichkeiten
auf.
Der Flensburger Erziehungswissenschaftler und Psychologe Christian
Dewanger geht mit seinem Beitrag »Psychologische Determinanten
kapitalistischer Ausbeutung« darauf ein, dass Rassismus, Fremden-
und Menschenfeindlichkeit auf den gleichen, ideologischen,
kapitalistischen Denk- und Handlungsmustern beruhen. Es genügt also
nicht, kleinere Korrekturen im kapitalistischen System, sondern
einen Systemwechsel vorzunehmen.
Im Schlussbeitrag des Sammelbandes gibt die Hannöversche Soziologin
und Anglistin Julia Mihaela Iclodean Informationen zum Projekt
»Interkulturelles Theater und Psychoanalyse«. Sie vermittelt, dass
„das Theater die Kraft hat, individuelle emanzipatorische Prozesse
zu aktivieren, und dass die Psychoanalyse diese Momente im
Zusammenhang mit einer Gesellschaftskritik greifbar machen
kann“.
Fazit
Die Verbindungslinien, die sich zwischen Migration und Rassismus
ergeben, sind im alltäglichen und öffentlichen Diskurs um »Wir« und
die »Anderen« zu besichtigen. Damit der Blick darauf nicht flüchtig
verläuft, sondern haften bleibt und zum humanen, aktiven Denken und
Handeln auffordert, braucht es einer eingehenden Auseinandersetzung
auf der Grundlage von wissenschaftlichen Analysen und
Erkenntnissen. Beim Berliner Kongress »Migration und Rassismus. Zur
Politik der Menschenfeindlichkeit« im März 2016 haben sich
disziplinär und interdisziplinär Fachleute und ExpertInnen mit den
vielfältigen Fragen, Problemen und Herausforderungen zur
Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik auseinander gesetzt; und zwar
nicht in erster Linie, um die rechtlichen, sondern die ethischen
und psychologischen Grundlagen zu diskutieren. Das ist umso
wichtiger, je mehr aktuell ethnische, nationalistische,
rassistische und populistische Töne und Abwehrhaltungen und
-aktivitäten wirksam werden. Es ist die Aufforderung: »Schauen Sie
nicht zu, sondern hin«, die angesagt ist! (Jos Schnurer, 23. 10.
2015, www.sozial.de/schauen-sie-nicht-zu-sondern-hin.html).
Rezensent
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 25.04.2017 zu: Klaus-Jürgen Bruder,
Christoph Bialluch (Hrsg.): Migration und Rassismus. Politik der
Menschenfeindlichkeit. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2017. ISBN
978-3-8379-2655-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
https://www.socialnet.de/rezensionen/22200.php, Datum des Zugriffs
25.04.2017.
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