Rezension zu Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung (PDF-E-Book)
Kritische Justiz. Vierteljahresschrift für Recht und Politik. 50. Jahrgang, Heft 1, 2017
Rezension von Anja Schmidt
Das Themenfeld »Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive
Selbstbestimmung«, mit dem der Sammelband überschrieben ist, ist
von höchster Aktualität: Die Beschlüsse des
Bundesverfassungsgerichts zur Rechtslage von Trans*Personen haben
das Transsexuellengesetz als ruinösen Torso hinterlassen, der auch
in seinen verbliebenen Gehalten heftiger Kritik ausgesetzt ist. Mit
der Kampagne »Dritte Option« versucht eine Inter*Person die
personenstandsrechtliche Eintragung des Geschlechts »inter« oder
»divers« zu erreichen, gegen die ablehnenden fachgerichtlichen
Entscheidungen wurde am 2. September 2016 eine
Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht
(vgl. www.dritte-option.de). Der Bundestag hat am 7. Juli 2016
durch die Verabschiedung des Gesetzesentwurfes zur Verbesserung der
Rechte der Opfer von Sexualdelikten die Verankerung des Grundsatzes
»Nein heißt Nein« im Sexualstrafrecht beschlossen. Reproduktive
Rechte sind etwa im Hinblick auf den Schwangerschaftsabbruch sowie
die Zulässigkeit und Verfügbarkeit von Reproduktionstechniken immer
wieder Gegenstand von Debatten.
Der von Michaela Katzer und Heinz-Jürgen Voß herausgegebene
Sammelband ist der fünfte Band der am Institut für Angewandte
Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg herausgegebenen
Reihe »Angewandte Sexualwissenschaft«. Sie ist dem Austausch
zwischen Theorie und Praxis gewidmet, »da praktisch viele
Entwicklungen längst vollzogen sind, bevor sie in der theoretischen
Reflexion ankommen« und »frühzeitige theoretische Begleitung (...)
praktisches Handeln wiederum weiter fundieren und qualifizieren
(kann)« (S. 15). Genau dies trifft auch auf juristische
Fragestellungen und Debatten zu – sie werden einerseits durch
vorgängige Praxen angeregt und zugespitzt und können andererseits
praktisches Handeln inspirieren und begleiten. Für diejenigen
Jurist*innen, die sich mit selbstbestimmter Geschlechtlichkeit und
Sexualität beschäftigen, enthält der Band daher wertvolle
Informationen, Vertiefungen und Anregungen, die ich im Folgenden
aufzeigen möchte.
Für den Bereich ›Geschlechtliche Selbstbestimmung‹ thematisiert der
Band Trans*- und Inter*Geschlechtlichkeiten. Anne Allex und Diana
Demiel stellen in ihrem Beitrag STP, die »Internationale Kampagne
Stop Trans Pathologization«, vor, die sich für eine selbstbestimmte
Gesundheitsversorgung von Trans*Personen einsetzt. Genauer geht es
um die Abwendung vom medizinisch-psychiatrischen Begriff der
Transsexualität als Krankheit hin zu einer Anerkennung von
Geschlechtervielfalt, die medizinische Interventionen im Sinne
einer selbstbestimmten Gesundheitsversorgung aber nicht
ausschließt. Diese könnten ähnlich wie Schwangerschaft und Geburt
in Krankheitsklassifikationssystemen erfasst werden. Zwar wären
Trans*Identitäten damit noch immer nicht vollkommen jenseits
pathologisierender Diskurse erfasst, dies ist aber als ein Versuch,
medizinische Optionen im selbstbestimmt-konsensuellen Rahmen zu
eröffnen, zu würdigen. Der Beitrag macht zudem auf transphobische
Gewaltverbrechen aufmerksam.
Michaela Katzer gibt einen Überblick über die medizinische
Einordnung und Kategorisierung von »Transsexualismus« und den
verschiedenen Formen von »Intersexualität«, wobei sie betont, dass
Intersexuelle per se weder krank und noch behandlungsbedürftig sind
(S. 89), auch eine zwingende psychotherapeutische oder
psychiatrische Behandlung und Begutachtung von Trans*Personen wird
abgelehnt (S. 96). Die Wortwahl »Intersexualität« und
»Transsexualismus« erscheint als fragwürdig, da dies die gewöhnlich
im pathologisierenden Sinne verwendeten Begriffe sind. Es wäre
wünschenswert gewesen, wenn die Autorin dargelegt hätte, warum sie
sie auf diese Weise gebraucht.
Markus Bauer und Daniela Truffer erläutern zunächst
medizinisch-biologische Grundlagen zu körperlichen Inter*Phänomenen
und beschreiben geschlechtsanpassende Operationen kritisch als
Genitalverstümmelungen. Es wird deutlich, inwiefern diese
Operationen letztlich lediglich kosmetisch motiviert sind und
welche konkreten nachteiligen Folgen sie für die operierte Person
haben können, etwa als schmerzende Narben, Verlust der Empfindungs-
und Zeugungsfähigkeit, Stigmatisierung und Eingriff in den
Hormonhaushalt, der zu Depressionen und Adipositas führt. Sie
werden ebenso wie Genitalfotografien und Zurschaustellungen vor
Studierenden der Medizin als sexualisierte Gewalt gekennzeichnet.
Den Beitrag schließen rechtliche Forderungen auf Kenntnis der
eigenen geschlechtlichen Konstitution, gegen die Straflosigkeit von
nicht mit den Operierten selbst konsentierten Operationen und auf
Anerkennung der eigenen geschlechtlichen Identität ab.
Anja Kruber befasst sich anhand eines internationalen Überblicks
über Studien und der Auswertung eigener Leitfadeninterviews mit der
sexuellen Zufriedenheit von Trans*Personen. Heike Bödekers Gedanken
kreisen um Intersexualität und Geschlechtsidentität,
Selbstbestimmung trotz elterlicher und ärztlicher Zuweisungen und
Psychoanalyse; sie lassen die Empörung über geschlechtszuweisende,
nicht mit dem Kind konsentierte Operationen deutlich werden.
Andreas Hechler macht instruktiv darauf aufmerksam, dass auch die
emanzipatorisch intendierte Beschäftigung mit intergeschlechtlichen
Menschen nicht mit dem medizinischen Blick beginnen sollte, sondern
mit den intergeschlechtlichen Personen selbst als Menschen »mit
ganz individuellen Interessen, Vorlieben, Erfahrungen und
Lebensrealitäten« (S. 165). Er plädiert überzeugend dafür,
intergeschlechtliche Menschen als Expertinnen für sich
einschließlich ihres Körpers wahrzunehmen. Der den Abschnitt
abschließende Beitrag von Manuela Tillmanns enthält unter anderem
eine erhellende Kritik des Sprechens und Vorschläge für ein
angemessenes Sprechen von Intergeschlechtlichkeit.
Der Abschnitt ›Sexuelle Selbstbestimmung‹ wird von zwei sehr
informativen Aufsätzen von Nadine Schlag und Andrzej Profus zu
Asexualität als gemeinhin nicht bekannte und damit nicht anerkannte
Form der sexuellen Orientierung und als vernachlässigter
»Forschungsgegenstand der deutschsprachigen Sexualwissenschaft« (S.
221) eröffnet. Der Begriff der Asexualität und die
unterschiedlichen, darunter gefassten Phänomene werden ebenso
erläutert wie deren Pathologisierung im historischen Zusammenhang.
Auch hier wird eine »selbstbestimmte Definitionsmacht« gegen eine
»normierende Gesellschafts- und Wissenschaftspraxis« gefordert (S.
222).
Die weiteren drei Beiträge des Abschnitts sind dem Themenbereich
Sexualität in Haft gewidmet. Jens Borchert bemängelt das Fehlen von
Forschungen zur sexuellen Deprivation (sexuellen Isolierung) von
Strafgefangenen in Deutschland. Er stellt den internationalen
Forschungsstand ebenso wie die Studien zu Deutschland im Überblick
dar und bezieht dabei Studien zur sexualisierten Gewalt in
Haftanstalten ein. Heino Stöver beschreibt das frustrationsgeladene
Spannungsfeld zwischen der Allgegenwärtigkeit von Sexualität im
Gefängnisalltag, zum Beispiel durch entsprechende Poster und
deutlich sexualitätsbezogene Gesprächsinhalte, und den stark
eingeschränkten Möglichkeiten, sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen.
Er weist auf die Tabuisierung von Sexualität in Gefängnissen hin,
der unterschwellig ein »›Verbot‹ der Ausübung von Sexualität in
Haft« »als Teil der Strafe« zugrunde zu liegen scheint (S. 256). In
diesem Zusammenhang thematisiert er neben Aggressionen
sexualisierte Gewaltfantasien und sexualisierte Gewalt. Auch
Torsten Klemm verweist auf die dünne Forschungslage zu
Strafgefangenen und ihrem Ausleben von Sexualität sowie zu
sexualisierter Gewalt in Gefängnissen. Er gibt einen vertieften
Überblick über Erkenntnisse zu ausweichendem Sexualverhalten,
Ersatzhandlungen, Selbstbefriedigung, haftbedingter Homosexualität
und Prostitution sowie zu sexuellen Übergriffen. Er bemängelt die
systematische Frustrierung des »Bedürfnisses nach sozialem Kontakt
und zwischenmenschlicher Wärme« in Haft, obwohl dies ein
»menschliches Primärbedürfnis« ist, und zeigt abschließend auf, wie
es, auch einer Gefängnisstrafe angemessen, befriedigt werden kann
(S.291).
Im Abschnitt ›Reproduktive Selbstbestimmung‹ gibt Katja
Krolzik-Matthei einen (sehr) kurzen Überblick über die Geschichte
der Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs. Das Spannungsfeld der
feministischen Debatte zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der
schwangeren Person, der Zuweisung der umfassenden Verantwortung
Schwangerer für die Gesundheit des Fötus/ Embryos durch
vorgeburtliche Untersuchungen und der Gefahr der Selektion, die
durch vorgeburtliche Untersuchungen ermöglicht wird, wird
erläutert. Alina Mertens thematisiert die reproduktive
Selbstbestimmung von ableisierten Menschen und beschreibt,
ausgehend von einem Praxisbeispiel, eindrücklich die
paternalistischen Barrieren, denen Menschen mit Behinderung bei
einem Kinderwunsch bzw. dessen Umsetzung begegnen, obwohl ihnen
gem. Art. 23 UN-Behindertenrechtskonvention das gleiche Recht auf
reproduktive Selbstbestimmung zusteht. Marien Weller-Menzel wendet
sich gegen die Diskriminierung von LGBTI-Personen mit Kinderwunsch
und von Regenbogenfamilien.
Der Band greift viele Aspekte geschlechtlicher, sexueller und
reproduktiver Selbstbestimmung auf, auch wenn er angesichts der
umfassenden Überschrift teils mosaikartig wirkt. Er vermittelt
Jurist*Innen wichtige Informationen und Impulse für eine sprachlich
angemessene, kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit dem Recht
unter Einbeziehung der Praxis und ausgehend von den Perspektiven
»Betroffener« (den Begriff verwende ich kritisch im Sinne des
Vorschlags von Manuela Tillmanns (S. 187, Fn. 2), also insoweit er
das Betroffensein von Stigmatisierung, Diskriminierung und Gewalt
meint). Insoweit ist hervorzuheben, dass unter den Beitragenden
(ehemalige) Aktivistinnen und »Betroffene«" sind. Dabei hätte ich
mir gewünscht, dass in den einzelnen Beiträgen deutlicher wird, aus
welcher Perspektive »gesprochen« wird – nicht um das jeweils
Gesagte schmälernd relativieren zu können, sondern um den
jeweiligen Blickwinkel transparent zu halten.