Rezension zu Michael Haneke
Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 36, 2017
Rezension von Stephanie Kroesen
Der österreichische Regisseur und Drehbuchautor Michael Haneke gilt
unumstritten als einer der bedeutendsten Filmemacher des
zeitgenössischen Arthouse-Kinos. Sein umfangreiches Werk wurde mit
zahlreichen Preisen ausgezeichnet: Für die »Klavierspielerin«
(2001), eine Adaption des Welterfolgs von Elfriede Jelinek aus dem
Jahr 1983, bekam er bei den Internationalen Filmfestspielen von
Cannes den Großen Preis der Jury. Mit ihr gelang Haneke der
internationale Durchbruch: Für »Das weiße Band – Eine deutsche
Kindergeschichte« (2009) wurde er mit der Goldenen Palme sowie
einem Golden Globe ausgezeichnet und mit einer Oscar-Nominierung
bedacht. Sein bislang letzter Film, das kammerspielartige Drama
Liebe (2012), bildet vorerst den Höhepunkt in Hanekes Karriere -es
brachte ihm unter anderem den Oscar, einen Golden Globe sowie drei
Césars ein.
Es wundert daher nicht, dass sich der vorliegende, von Gerhard
Schneider und Peter Bär herausgebrachte Band allein dem
Erfolgsregisseur Michael Haneke widmet. Es handelt sich dabei um
die Dokumentation des im Jahr 2015 veranstalteten 13. Mannheimer
Filmseminars »Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie«. Die
Beiträge aus dem Workshop werden durch einige Analysen zu den nicht
im Seminar gezeigten Kinofilmen sowie einen Beitrag zur Musik in
Hanekes Filmen ergänzt, sodass der Sammelband insgesamt 14 Artikel
umfasst. Er ist der mittlerweile zwölfte in der ›Mannheimer Reihe‹,
die im Psychosozial-Verlag erscheint und sich bereits mit Alfred
Hitchcock, Roman Polanski, Luis Buhuel und David Lynch befasst
hat.
Michael Hanekes besonderes Potential, so liest man in Schneiders
Vorwort, liege nun darin, dass er ein Regisseur sei, der mit seinen
Filmen zu provozieren und zu polarisieren wisse:
»[P] rovozierend etwa in seinem Bruch mit den Konventionen des
Mainstreamkinos und der Intensität seines antwortlosen offenen
Fragens, polarisierend darin, dass die Strenge seiner Bildsprache
und der mit ihr verbundene radikale ästhetische und existenzielle
Anspruch an den Zuschauer einerseits als produktive
Herausforderung, andererseits aber auch als unterwerfungsheischende
Bevormundung durch einen Wertkonservativen erlebt werden kann« (S.
7).
Die in Hanekes Filmen erzählten Geschichten, so heißt es im
Klappentext des Bandes, setzten »aus der Realität unserer
Gesellschaft resultierende Alpträume (in Szene), die einen Einblick
in unsere soziokulturelle Conditio humana mit ihren apokalyptischen
Gewalt- und Zerstörungsphantasien erlauben«. Ziel des Bandes ist es
daher, Michael Hanekes Kinofilme aus psychoanalytischer sowie
filmwissenschaftlicher Perspektive zu untersuchen und beide
Perspektiven miteinander zu verschalten. Ein besonderer Service für
die Leserinnen und Leser wäre hierbei allerdings gewesen, wenn die
Herausgeber die Filmlektüren zu thematischen Einheiten gruppiert
oder zumindest eine Strukturierung der einzelnen Beiträge zu den
Filmen angedeutet hätten. So scheint es sich eher um einen
chronologischen Gang durch Hanekes Œuvre zu handeln, der punktuelle
Analysen liefert, die ›große Linie‹ aber hin und wieder aus den
Augen zu verlieren droht.
Bert Rebhandl widmet sich Hanekes spezifischer Art des Filmemachens
und stellt mit Blick auf die Eröffnungssequenz in »Cache« (2005)
fest, dass Haneke in seinen Filmen zunächst subtil, dann aber immer
deutlicher seine Position als Filmemacher reflektiert. Seine
Autorposition ließe sich daher als eine aporetische beschreiben, da
es ihm um die Versiegelung von Bildern gegen das Eindringen
innerer, unbewusster Prozesse zu tun sei. In diesem Kontext
problematisiert Rebhandl auch Hanekes Agenda, ein >Kino gegen
das Kino< zu realisieren, die daran kranke, dass er selbst Teil
des Systems sei. Die von ihm eingesetzten filmischen
Verfremdungsmittel dienten deshalb nicht der Reflexion
soziokultureller Zustände, sondern seien ein Ausdruck für die von
ihm vorausgesetzte Negativität.
Marcus Stiglegger liefert eine filmwissenschaftliche Lektüre zu
Hanekes ersten drei Kinofilmen, die als Trilogie der emotionalen
Vergletscherung gefasst werden: »Der siebente Kontinent« (1989),
»Benny/'s Video« (1992) und die »71 Fragmente einer Chronologie des
Zufalls« (1994) stellten die für Hanekes Gesamtwerk zentralen
Leitlinien aus, indem sie die ›conditio humana‹ der westlichen,
technologisch-medial geprägten Gesellschaft verhandelten und dabei
eine Atmosphäre der Sinnlosigkeit und Sinnentleerung in Szene
setzten. Die »Trilogie der emotionalen Vergletscherung« ließe sich
daher als »Manifest() einer zwischenmenschlichen Kälte und
Kommunikationsunfähigkeit (perspektivieren), welche von Haneke mit
sorgsam bedachten Stilmitteln entfaltet wird« (S. 23f.), durch die
er sein Publikum zu einem neuen, zu einem reflektierten Sehen
zwinge, das sich bewusst von Hollywoodproduktionen und deren
Effekten distanziere.
Isolde Böhme widmet sich Hanekes erstem Kinofilm, »Der siebente
Kontinent«, und konfrontiert diesen mit dessen bislang letztem,
»Liebe«, prozessierten doch beide das Paar- respektive
Paar-und-Kind-Sujet. Gezeigt wird, wie Haneke mit spezifischen
filmischen Mitteln – etwa einem leeren, flimmernden Fernsehbild –
die Stringenz des Weges in eine absolute (Selbst-)Zerstörungswut,
die der den technischen Medien inhärenten Gewalt geschuldet ist, in
Szene setzt.
Andreas Hamburger untersucht »Benny/'s Video« vor der Folie der
Trias aus logischem, psychologischem und
psychoanalytisch-szenischem Verstehen. Anhand der Momente Genre und
Schnitt zeigt er, wie Hanekes Film die für das Mainstreamkino
typische Einfühlung des Zuschauers in den Protagonisten durchkreuzt
und der Zuschauer dadurch nicht nur aus seinem »elenden
Bildgefängnis« (S. 53) befreit, sondern auch seiner
Selbstgewissheit beraubt wird. Indem der Zuschauer dadurch in einen
Wahrnehmungsmodus versetzt wird, der dem Zustand eines Säuglings
gleicht, könne der Film selbst als Mutter interpretiert werden.
Gerhard Schneider widmet sich Hanekes »71 Fragmenten einer
Chronologie des Zufalls« unter dem Fokus der Gewalt. Dem
behandelten Film komme insofern eine Sonderstellung zu, als dass
hier deutlicher als etwa in »Der siebente Kontinent« und »Benny/'s
Video« das Moment der Hoffnung als prinzipiell möglich erscheine.
Schneider wählt in seiner Analyse einen sowohl
individualpsychoanalytischen als auch einen
soziokulturpsycho-analytischen Zugang und zeigt dabei, dass der
Film dem Zuschauer als »Quasi-Person« (S. 67) begegnet und Haneke
die »krypto-psychoanalytische Haltung des ›KEIN Begehren,
Verstehen, Gedächtnis‹« (S. 69) verfolgt.
Eva Berberich widmet sich Hanekes wohl am kontroversesten
diskutierten Film »Funny Games« (1997), der von einem Todesspiel
erzählt, bei dem zwei Mörder eine dreiköpfige Familie demütigen und
umbringen. Der Film sei quälend, auch wenn Gewalt nur off-screen
passiere, was vor allem dem Umstand geschuldet sei, dass die
mörderische Gewalt gänzlich unmotiviert und kontingent sei. Auf der
Ebene der Handlung sei der Film, so Berberich, deshalb
anti-psychoanalytisch.
Gerhard Midding setzt sich mit »Code inconnu. Récit incomplet de
divers voyages« (2000) auseinander, der nicht nur deshalb einen
Wendepunkt in Hanekes Œuvre darstelle, weil er dessen erster in
Frankreich produzierter Film ist, sondern auch, weil alle
nachfolgenden Filme wesentlich zugänglicher sind, ohne ihre
ästhetische Intensität und Radikalität einzubüßen. Indem Hanekes
Einsatz von filmischen Mitteln nicht mehr die Akteure zum
eigentlichen Gegenstand des Films mache, sondern den Zuschauer,
unterminiere er die zumeist mit Genuss verbundene Zuschauerposition
des Mainstreamkinos und rücke den Zuschauer stattdessen in die
unbequeme Position des selbst Ausgesetzten.
In ihrem zweiten Beitrag widmet sich Eva Berberich der
»Klavierspielerin« und zeigt, inwiefern das Scheitern der Beziehung
zwischen der Klavierprofessorin Erika Kohut und ihrem Schüler
Walter Klemmer der prekären Beziehung zwischen Erika und ihrer
Mutter geschuldet ist. Auch wenn Hanekes Erzählweise in diesem Film
den Sehgewohnheiten seines Publikums näher komme, da sie auf den
emotionalisierenden Effekt von Musik setze und auf Rückblenden
verzichte, würden die Zuschauerinnen und Zuschauer dennoch aus
ihrer ›comfort zone‹ herausgeholt und mit gravierenden Affekten wie
Abscheu und Bedrängnis konfrontiert.
Katharina Leube-Sonnleitner nutzt Alfred Lorenzers
Tiefenhermeneutik, um Hanekes »Wolfzeit« (2003) zu analysieren.
Haneke, so lautet ihre These, verhandle in seinem Film auf subtile
Weise die Shoah und etabliere von Beginn an die den Zuschauer
verstörende »Verrücktheit als Strukturprinzip« (S. 115).
Edeltraud Tilch-Bauschke geht bei ihrer psychoanalytischen Lektüre
von Hanekes »Caché« von den intensiven Zuschauerreaktionen aus, die
Beunruhigung, Ratlosigkeit u.a. ausdrückten. Thematisiert würden
sowohl individuelle als auch kollektive Verdrängungen, die aus
einer verdrängten Kindheitserinnerung des Protagonisten
resultierten. Dabei gehe es aber auch um die Suche nach der
Wahrheit hinter der durch die Medien verzerrten Wirklichkeit.
Susanne Kappesser hingegen wählt einen filmwissenschaftlichen
Zugang zu »Caché«: Auch sie setzt sich mit der Frage nach der
individuellen Schuld des Protagonisten sowie kollektiven
Verdrängungsprozessen auseinander, rückt dabei in Rekurs auf die
Critical Whiteness Studies aber vor allem Medialität in Form von
Videobildern in den Fokus, da diese den Blick des Anderen
imitierten, der gleichzeitig aber auch zur Selbstreflexion
anrege.
Besonders hervorgehoben seien Ralf Zwiebeis psychoanalytische
Überlegungen zum Motiv der Reinheit in Hanekes Film »Das weiße
Band«, die drei Kontexte miteinander verschränken: Erstens begreift
er den Film als »Visualisierung, als Fragestellung oder als
Hypothese eines spezifischen Aspekts der psychoanalytischen
Theorie« (S. 149) – in diesem Falle der vor allem in der Familie
des Pastors zu beobachtenden Verabsolutierung des religiösen Ideals
der Reinheit, der es jedoch an jeglicher Reflexion und Revision
fehle und aus der deshalb Grausamkeit und Gewalt resultierten.
Haneke untersuche mit seinem Film – wie die Psychoanalyse auch –
die Quellen menschlicher Grausamkeit und die daraus entstehenden
Folgen und zeige, dass das, was die Eltern ihren Kindern antäten,
in den Taten der Kinder wieder zurückkehre, und mehr noch, sich am
Ende sogar gegen sie selbst wende. Zweitens sei »Das weiße Band«
ein Beispiel dafür, inwiefern der Film Aspekte der klinischen
Behandlungssituation und ihrer Prozesse darstelle und die Figur des
Lehrers daher im metaphorischen Sinne als Analytiker fungiere: Bei
seiner Suche nach Wahrheit und Aufklärung suche er stets das echte
Gespräch – so nähere sich seine Unterredung mit der Tochter des
Gutsverwalters einem analytisch-therapeutischen Gespräch an – und
strebe nach Verstehen und Verständnis; letztlich scheitere er aber
immer wieder, da er selbst an einem prekären Bild von Reinheit
festhalte. Drittens figuriere der Film als Teil der Selbstreflexion
des den Film rezipierenden Psychoanalytikers - Zwiebel versteht den
Film als »visuelle(n) Kommentar zur eigenen inneren Situation, der
Film [wird] also aus dem Kontext des eigenen, persönlichen Lebens,
der eigenen Biografie und der eigenen Probleme und Konflikte
verstanden« (S. 149f.).
Astrid Riehl-Emde analysiert Hanekes bislang letzten Film Liebe, in
dem es um die Abschottung eines Paares geht, das sich in eine
repressive Zweierbeziehung zurückzieht. Ob es eine Alternative zur
Tötung der Ehefrau gegeben hätte, diskutiere der Film nicht,
vielmehr betone er die Nicht-Beantwortbarkeit elementarer
Fragen.
Dietrich Stern untersucht in seinem den Sammelband beschließenden
Beitrag die musikalische Faktur der Filme Hanekes. Er arbeitet
heraus, dass sich Hanekes Musikbegriff trotz Rekurs auf Adorno von
der Zweiten Wiener Schule distanziert und inwiefern der filmische
Einsatz von Musik nicht der Emotionalisierung dient, sondern stets
Teil der gefilmten Realität ist.
Das Fazit zu dem von Gerhard Schneider und Peter Bär
herausgebrachten Sammelband fällt positiv aus: Die enthaltenen
Analysen und Interpretationen zu ›sämtlichen‹ Kinofilmen Michael
Hanekes zeugen von hoher Relevanz und Innovation. Nur am Rande sei
auf die zahlreichen aussagekräftigen Abbildungen verwiesen, die die
Evidenz der einzelnen Beiträge erhöhen. Auch wenn der
psychoanalytische Zugriff auf die Filme ganz klar im Fokus steht
und man sich insgesamt noch mehr Beiträge ausgewiesener Film- bzw.
Kulturwissenschaftler gewünscht hätte, liefert Hanekes Œuvre nicht
einfach nur Material, das ›ausgeschlachtet‹ wird. Nein, es wird in
seiner Ästhetik ernst genommen, sodass man von einer regelrechten
Verschaltung psychoanalytischer Perspektiven mit
filmwissenschaftlichen Lektüren sprechen kann, durch die der Band
seiner ambitionierten Agenda, Psychoanalyse und Filmtheorie in
Dialog zu bringen, überwiegend gerecht wird. Positiv hervorzuheben
ist dabei auch der Umstand, dass zu einem Film oftmals mehrere
Beiträge geboten werden und dadurch ein verschiedene Blickwinkel
umfassendes Panorama aufgespannt werden kann. Allein das Vorwort
fällt – was das ›framing‹ des Bandes angeht – etwas schwach aus:
Der Leser, die Leserin erfährt hier insgesamt zu wenig über den
Konnex von Filmtheorie, Psychoanalyse und Hanekes Gesamtwerk. Zu
Beginn des vorliegenden Sammelbandes hätte man sich aber etwas mehr
gewünscht, nämlich das Öffnen eines Horizontes, der einen
detaillierteren Überblick über Hanekes Œuvre gibt, auf dessen
Rezeption verweist und – zumindest ansatzweise – die Chancen und
Grenzen eines Dialogs von Psychoanalyse und Filmtheorie
auslotet.
Dem überwiegend positiven Gesamteindruck tut dies jedoch keinen
Abbruch: Es handelt sich um einen wichtigen Band, der Lust auf eine
tiefer gehende Auseinandersetzung mit dem Werk Hanekes macht. Dabei
bereiten die stets auf hohem Niveau argumentierenden Beiträge
enormes Lesevergnügen und eignen sich sowohl für Leserinnen und
Leser mit als auch ohne psychoanalytisches Vorwissen, da die
entsprechenden Ausführungen so verständlich gehalten sind, dass
Vorkenntnisse nicht vorausgesetzt werden.