Rezension zu unzeitgemäßes

Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 36, 2017

Rezension von Timo Storck

Zu sagen »Die Psychoanalyse geht mit der Zeit« ist doppeldeutig. Zum einen ist darin enthalten, dass sie mit der Zeit geht, also sich als flexibel gegenüber Entwicklungen zeigt, zum anderen, dass sie mit der Zeit ›geht‹, d.h. im zeitlichen Verlauf verschwindet oder irrelevant wird. Ob etwas als ›zeitgemäß‹ angesehen werden kann, lässt sich m.E. in erster Linie darüber bestimmen, dass es nicht statisch ist. Zeitgemäß zu sein, kann bedeuten, zu einer Zeit (und das heißt ja meist: einem zeitlichen Abschnitt, z.B. in der Wissenschaftsgeschichte, der öffentlich-kulturellen Wahrnehmung o.a.) als passend, aber gerade nicht sich dem Zeitgeist bloß reaktiv anpassend wahrgenommen zu werden. Zeitgemäßes über seine Nicht-Statik zu bestimmen, soll heißen: Zeitgemäß ist, was irgendwie in Bewegung ist, was gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen nicht bloß nachzieht, sondern diese erkennt, vielleicht gar mitgestaltet. Und Zeitgemäßes ist und ›bleibt‹ zeitgemäß, wenn es nicht allein zu einer Zeit passt. Soll Zeitgemäßes nicht bloß reaktive Anpassung bedeuten, dann zeitigt es eine Form von Dynamik.

Für eine Wissenschaft und/oder ein System von Begriffen bringt das m.E. zwei weitere Elemente mit sich (die allerdings miteinander verbunden sind): Zum ersten sollte eine Wissenschaft zeigen, wie sich ihre Begriffe weiterentwickeln, zum zweiten liegt ihr zeitgemäßer Charakter im Verhältnis zu anderen Wissenschaften, in ihrer interdisziplinären Stellung, in Kooperation mit ihnen wie im kritischen Einspruch gegen sie. Von daher ist es alles andere als ein Zufall, dass sich die Beiträge im 2014er Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie DGPT (das seit diesem Jahrgang nicht mehr als Tagungsband der Jahrestagungen verstanden werden soll und auch andere Beiträge umfasst) so deutlich um das Feld der Psychoanalyse im interdisziplinären Zusammenhang drehen. So findet sich die Verbindung der Psychoanalyse zur Philosophie im Beitrag von Joachim Küchenhoff über »Zeit als Gabe«, zur Soziologie im Beitrag von Georg J. Bruns zu psychologischen Aspekten der Ökonomisierung oder dem von Martin Domes zur Diskussion der These, ob moderne Gesellschaften krank machen. Ferner taucht sie auf im Beitrag von Gerhard Roth und Nicole Strüber sowie in dem von Anna Buchheim zur Neurobiologie/ Neuropsychologie, um nur einige zu nennen. Nicht nur im so betitelten Abschnitt des Bandes zu »Nachbarwissenschaften« (die anderen beiden betreffen die »Psychoanalyse der Zeit« und die »Klinische Praxis«) sind diese dabei allgegenwärtig, auch Adelheid M. Staufenbergs Text zu ADHS oder Hans Hopfs Beitrag zu den »unruhigen Jungen«, Helga Krüger-Kirns Arbeit über Weiblichkeit anhand von »Frau-Frau-Psychoanalysen« oder Gabriele Poettgen-Havekosts körpertherapeutischer Beitrag zeigen die Bedeutungen gesellschaftlicher Entwicklungen und deren notwendige theoretische Aufarbeitung und klinische Beachtung. Die Kulturen psychoanalytischer Theoriebildung, im Besonderen intersubjektiver Ansätze als Ausdruck des Zeitgeists stellt Werner Bohleber in seinem Beitrag kritisch dar, sie tauchen, neben der Theorie komplexer Systeme, auch im Text von Andreas Bachhofen auf.

Elemente des Zeitgemäßen finden sich ferner in der Thematisierung eines integrativen (stationären) Behandlungskonzepts in der Arbeit von Michael Purucker und Kollegen. Auch führt Diana Pflichthof er das Ineinander aus Zeitgemäßem und Nicht-Zeitgemäßem vor Augen, wenn sie in ihrem kritischen Blick auf die Quantified-Self-Bewegung zugleich auf Hölderlin verweist. Das mitschwingende Self-Tracking (also das Ansammeln quantitativer Daten über »mich selbst«, z.B. die am Tag getätigten Schritte, die getrunkene Menge Kaffee etc.) kann im Übrigen als Kontrastfolie zur (klinischen) Psychoanalyse genommen werden: dem Selbst wird auch dort auf die Spur gekommen, aber gerade nicht in einer scheinbar objektiven Als-Ob-Außenperspektive, sondern als Element der Erfahrung, mit allen Täuschungen, die diese birgt.

Die offenkundige Bezugnahme der Psychoanalyse auf wissenschaftliche Nachbarfelder bringt ein weiteres Erfordernis mit sich, wie der Band, nicht immer explizit, aber meist zwischen den Zeilen, zeigt: die wissenschaftsphilosophische und methodologische Sicht der und auf die Psychoanalyse. Diese Perspektive schwingt mit, wenn es Wolfgang Mertens um das Verhältnis der Psychoanalyse zur Allgemeinen Psychotherapie geht, noch deutlicher nimmt sich Christian Seil in seinem Beitrag zu den (unterschiedlichen) Wissenskulturen von Psychoanalyse und Kognitiver Verhaltenstherapie (und den Folgen für die vergleichende messende Psychotherapieforschung) der Frage an, wie psychoanalytische Erkenntnis sich eigentlich gestaltet, und dies in kritischer Abgrenzung zu anderen Erkenntnis weisen. Eine spannende Folgerung daraus, dass sich die Verhaltenstherapie, anders als die Psychoanalyse, auf die akademische Psychologie als ihre Grundlagenwissenschaft bezieht, ist m.E. die, dass dann die Psychoanalyse entweder den Bezug zur Psychologie erst interdisziplinär herzustellen hätte oder aber dafür eintreten müsste, ihre eigene (nicht zuletzt methodische) Perspektive auf eine Theorie des Psychischen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Nun bezieht sich der Titel des Bandes nicht allein auf die Frage des Zeitgemäßen, sondern – farblich hervorgehoben – auch auf das ›Un‹zeitgemäße, das der Psychoanalyse eigen ist. Zwei Aspekte sind dabei besonders zu beachten: Erstens besteht ein wichtiger Unterschied zwischen dem Unzeitgemäßen und dem Veralteten, zweitens scheint mir die Gemeinsamkeit des Unzeitgemäßen mit dem Unbewussten bedeutsam und in der Titelwahl und -hervorhebung markiert. Unter der Differenz zwischen unzeitgemäß und veraltet kann man wesentlich verstehen, dass das Unzeitgemäße ein Moment des kritischen Einwands mit sich bringt, anders als das Veraltete, das auf etwas Gestriges, einen alten Hut o.a. verweisen soll. Unzeitgemäßes markiert selbst eine Differenz oder Nicht-Passung, aber in besonderer Weise, nämlich als eine Aktualität der Nicht-Passung. Als nicht zeitgemäß bezeichnet man ja gerade nicht das, was in einer Gegenwart nicht auffindbar wäre, sondern das, was vorhanden ist, aber sich unterscheidet.

M.E. trifft sich das Unzeitgemäße dabei mit dem Merkmal des Unbewussten. Dieses ist ja ebenso wenig schlicht woanders (noch nicht einmal in der Tiefe), sondern es ist da als eine Andersheit des Bewussten, als dessen Verzerrung oder Irritation. Es ist ein Einwand gegen die Hausherrenschaft des Ichs. Insofern es der spezifische (V-)Erkenntnisgegenstand der Psychoanalyse ist, macht es diese wissenschaftlich einzigartig. Das wiederum macht den Beitrag der Psychoanalyse zur Interdisziplinarität aus: der Hinweis auf (dynamisch) Unbewusstes in seiner Wechselwirkung mit gesellschaftlichen oder neuropsychologischen Prozessen, Krankheit und Gesundheit oder der Berufspolitik der Psychotherapie. Das Unbewusste und mit ihm die Psychoanalyse ist in gewisser Weise selbst ein Zeit-Geist, der im gesellschaftlichen Ist-Zustand herumgeistert und keine Ruhe gibt.

Der Band »unzeitgemäßes« hat also das Zeitgemäße der Psychoanalyse (in ihrer Interdisziplinarität und damit ihrer – potenziellen – Dynamik als Wissenschaft) zum Gegenstand ebenso wie zugleich das Unzeitgemäße der Psychoanalyse (ihren kritischen Einwand gegenüber dem ›Zeitgeist‹). So heißt es auch im Beitrag von Küchenhoff:

»Psychoanalyse ist in dem Sinn unzeitgemäß, dass sie den Zeitgeist nicht erfüllt, der von der Ökonomisierung der Lebenswelten geprägt ist; sie ist aber zeitgemäß insofern, als sie ihre klinischen und ihre kulturtheoretischen Theorien und Praktiken auf der Höhe der Zeit und in der Zeitaktualität entwickelt« (S. 15).

Der Band zeigt in diesem Spannungsfeld auch die polaren Gefahren zwischen einer Anpassung (an andere Wissenschaften) einerseits und einer falsch verstandenen globalen Fassungslosigkeit andererseits, mit der die Psychoanalyse sich selbst abtrennt. Der Band ist daher für eine solche Lektüre zu empfehlen, die sich auf die Suche nach der Stellung der Psychoanalyse in gegenwärtigen Entwicklungen machen möchte – dabei zeigt sie sich nicht zuletzt deshalb als zeitgemäß, weil in vielen Beiträgen die Öffnung auf zukünftig zu bewältigende Probleme in verschiedenen Feldern spürbar wird.

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