Rezension zu Älterwerden - Eine Entdeckungsreise

Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 36, 2017

Rezension von Tatjana Jesch

»Älterwerden — Eine Entdeckungsreise« ist das letzte, 2008 in französischer Sprache erstmals veröffentlichte Buch der schweizerischen Psychoanalytikerin Danielle Quinodoz (1934–2015). Sie setzt sich darin naheliegenderweise auch mit dem menschlichen Verhältnis zum Tod auseinander, der sie selbst erst Jahre später hatte ereilen sollen, aber doch nicht lange vor Entstehung der vorliegenden Rezension. Die noch frische, zumal verzögert wahrgenommene Todesnachricht weckt Betroffenheit und verleiht den Aussagen der verstorbenen Autorin noch einmal ein eigenes Gewicht. Ein Trost liegt darin, dass Quinodoz’ Worte der Realität der Endlichkeit – dieser unerbittlichen und zugleich bereichernden conditio humana – standhalten und dass daher vielleicht auch die Sterbende dem nahenden Ende mit ihrer emotionalen Reife und lebenszugewandten, weil den Tod in das Leben integrierenden Klugheit hat standhalten können. Gleichwohl schreibt sie:

»Von Kindheit an wissen wir, dass wir sterblich sind, aber dies bleibt eine rationale Erkenntnis, mit der wir uns mehr oder weniger gut arrangieren. Manch einer findet sogar Vergnügen daran, Abhandlungen zu diesem Thema zu schreiben. Aber alles wird anders, wenn wir unserem eigenen Tod gegenüberstehen, der näher kommt: Das ist ein Schock. Wenn er bewusst wird, spüren wir ihn in allen Fasern unseres Körpers: ›Mein Leben wird enden, ich kann dem nicht entrinnen. Wenn ich dem Tod gegenübertrete, werde ich das ganz allein erleben.‹ Mit rationalem Wissen hat das wenig zu tun (S. 63).«

Das Älterwerden aber, Gegenstand des Buches, kann Quinodoz zufolge helfen, sich auf den Tod einzustellen und vorzubereiten. Damit verbunden sind eine Hinterfragung des Lebens und ein Streben nach Sinngebung, bei dem die Psychoanalyse Unterstützung zu gewähren vermag. Quinodoz, der es in ihrer psychoanalytischen Arbeit nicht in erster Linie darum geht, um der Qualität noch bevorstehender längerer Lebensabschnitte willen Symptome zu kurieren, sondern eher darum, gemeinsam mit den Analysanden auch fortgeschrittenen Alters deren innere Welt zu erkunden und so eine Verbesserung ihres Befindens nebenbei zu erreichen, bringt älteren Patienten eine hohe Wertschätzung entgegen und wählt die »Alternsarbeit« (passim) mit ihnen sogar als einen Schwerpunkt ihrer analytischen Tätigkeit. Dabei versucht sie in Anlehnung an die Psychoanalytikerin Melanie Klein eine Entwicklung zum Engagement und zur Sorge auch für andere und anderes zu ermöglichen, sodass eine eher paranoide Einstellung zur Außenwelt überwunden wird und eine sozial isolierende Selbstbezüglichkeit einer wohlwollenden Selbstsorge weicht.

Solche Bezüge auf psychoanalytische Positionen, selbstredend auf diejenigen Sigmund Freuds, aber auch auf die durch Hanna Segal oder Wilfred Bion vertretenen, bleiben stets allgemeinverständlich. Sie werden ergänzt durch zahlreiche Beispiele aus der fiktionalen Literatur, die im Angesicht des Todes oder unter dem Eindruck des Alterns auftretende Konfliktkonstellationen und Persönlichkeitsentwicklungen veranschaulichen. Breiten Raum nehmen zudem Fallgeschichten überwiegend aus der psychoanalytischen Praxis Quinodoz’ ein, die das narrative, emotional berührende Moment des Buches noch verstärken. Zugleich entwickelt die Autorin eine dialektische Philosophie der gelebten Zeit. Diese schenke zum einen »Sekunden der Ewigkeit« (passim), in denen eine intensive Wahrnehmung von Liebe, Schönheit und Bedeutsamkeit das Vergehen der Zeit augenblicksweise außer Kraft setzt, nicht aber die Endlichkeit des Lebens aufhebt. Zum anderen bleibe für ein gelingendes soziales Leben auch die chronologische Alltagszeit unverzichtbar, da innerhalb derselben die nötige Liebes- und Beziehungsarbeit in Gesten und Worten zu leisten ist, welcher die zeitenthobenen Ewigkeitsmomente erst entspringen.

Grundgedanken dieser Art, zu denen auch die Einsicht gehört, dass das Älterwerden nach einer kohärenten und – dank Ambivalenzfähigkeit – selbst gegenüber schwierigen Bezugspersonen versöhnlichen Erzählung der eigenen Lebensgeschichte verlange, kehren im Buch immer wieder. Sie werden aber entsprechend dem breiten Spektrum behandelter Themen variiert und weiterentwickelt. So schützt psychische Verarmung im Alter vermeintlich vor dem Hadern mit der eigenen Vergangenheit und ihren Versäumnissen insbesondere im zwischenmenschlichen Bereich – Versäumnissen, welche durch die sich häufenden Verluste naher Angehöriger allzu schmerzlich als nicht wiedergutzumachen erfahren würden, entleerte sich nicht das Ich auf die von Freud in seiner Schrift über »Trauer und Melancholie« geschilderte Weise. Umgekehrt vermag das Alter einen wachsenden Reichtum an Ewigkeitsmomenten inmitten der scheinbar banalen Alltäglichkeit zu bescheren. Diese zunehmende Sensibilisierung für das Wesentliche insbesondere in der Beziehung zu anderen und zu sich selbst ist auch eine Frucht der Befreiung aus für Jüngere noch existenziellen beruflichen und gesellschaftlichen Abhängigkeiten. Alte Menschen können sich, sofern sie diese Chance erkennen, auf sich selbst besinnen, um so nach lebenslanger Anpassung und Selbstkorrektur zur Selbstakzeptanz zu finden. Quinodoz begründet diese Option auch mit Melanie Kleins Credo von der angeborenen, sich schon im Säuglingsalter auswirkenden Unterschiedlichkeit der affektiven Grundausstattung und Resilienz und betrachtet die Hinnahme solcher unabänderlichen Persönlichkeitsmerkmale als eine Quelle des psychischen Reichtums, die oft erst im Alter erschlossen werde:

»Es ist eine große Freude, Senioren zu begegnen, die verstanden haben, dass sie niemals in der Lage sein werden, ein Schloss zu erbauen, wenn ihr vorhandenes Baumaterial Bretter sind, dass sie aber daraus eine Vielzahl von Chalets [typisch schweizerischen Landhäusern aus Holz; T.J.] errichten können. Dies setzt natürlich voraus, dass sie, um den Reichtum des erhaltenen Holzes schätzen zu können, auf den Besitz von behauenem Stein verzichtet haben« (S. 142).

Allerdings ist hier auf die Gefahr hinzuweisen, dass die Effekte eigentlich zu verbessernder äußerer Entwicklungsbedingungen naturalisiert werden.

Wagen alte Menschen einen psychischen Neuentwurf hin zu sich selbst und ihren tatsächlichen Möglichkeiten, so stellen sie Quinodoz zufolge lebensgeschichtliche Kohärenz und »Harmonie« (S. 142) aus dem Material ihrer Anlagen und bisherigen guten wie schlechten Erfahrungen her. Quinodoz sieht sie - in Anlehnung an Hanna Segais Betrachtungen über Picassos »Guernica« – aus Chaos, Zerstörung, Leid und Hoffnung ein Kunstwerk erschaffen. Einheitsstiftend wirkt dabei auch das Erleben intensiver Gefühle von Schmerz und Trauer angesichts der Bruchstücke gelebten und erlittenen Lebens.

Damit eine solche und ähnliche Entwicklungen alter Analysanden gelingen können, ist einer laut Quinodoz für diese Patientengruppe typischen Gefahr vorzubeugen: der Gefahr eines Teufelskreises projektiver Identifizierung, wie Wilfred Bion ihn ursprünglich in Bezug auf das Verhältnis zwischen Säugling und Mutter geschildert hat. Verfügt eine erwachsene Bezugsperson nicht über die Fähigkeit, die unbehaglichen Gefühlsregungen des Kindes zu erspüren und ihm zu deuten, wird sie von diesen Regungen selbst hilflos ergriffen, kann sich dem Kind nicht beruhigend zuwenden und verstärkt dadurch dessen sowie folglich auch ihre eigene Verzweiflung. Ein analoges Geschehen kann sich im ungünstigen Fall zwischen Analytikerin und altem Analysanden abspielen. Erkennt jedoch die Analytikerin ihre negativen Empfindungen als vom Patienten stammend, kann sie ihm diese deuten helfen. Weitere Besonderheiten älterer Patienten in der Psychoanalyse sind die Vordringlichkeit unbewältigter Verlusterfahrungen, das Ringen um Identität, der hohe Stellenwert der Körpersprache als unbewusstes Mittel der Kommunikation mit der Analytikerin und das im Vergleich mit jüngeren Generationen stärkere Leiden unter den Folgen einer rigiden Erziehung. Bezüglich des zuletzt genannten Aspekts der Erziehung unterscheidet Quinodoz zwischen den Jahrgängen vor und nach 1920. Angehörige der älteren Gruppe werden heute wohl keine Analyse mehr aufsuchen, doch ist noch für die Jugendzeit gegenwärtig alter Menschen durchaus von Relikten der problematisierten Erziehungsmuster auszugehen, wenngleich Quinodoz dies nicht anspricht. Ein nicht genügend wohlwollendes Über-Ich und eine unentfaltete weibliche Sexualität sind Auswirkungen einer autoritätsbetonten, moralisch fordernden Erziehung unter – von Quinodoz allerdings nicht näher beleuchteten – patriarchalen Bedingungen. Die mit diesem Erziehungsstil verbundene klare Hierarchie und Trennung zwischen den Generationen löst sich auch nach Quinodoz erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (es wäre anzufügen: allmählich) auf, so dass in die psychoanalytische Therapie führendes psychisches Leid von 1950 und später geborenen Personen nach Quinodoz’ Eindruck gerade auf eine zu durchlässige Generationengrenze zurückzuführen ist.

In vieler Hinsicht indessen – in Bezug »auf das Unbewusste, die Übertragung, den Ödipuskomplex mit seinen genitalen und prägenitalen Anteilen, den Wiederholungszwang, die Abwehrmechanismen usw.« (S. 165; vgl. S. 188) – bestehen vor allem Gemeinsamkeiten zwischen älteren und jüngeren Menschen in psychoanalytischer Behandlung. Quinodoz’ Darstellungsinteresse gilt gleichwohl ausdrücklich den Spezifika der alten Patientinnen und Patienten. Dennoch ist ihr Buch lesenswert auch für jüngere Menschen, da es in beinahe therapeutischer Weise zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Menschsein anregt, also mit der Frage, was das Leben von Anfang an wesentlich ausmacht.

Als Wermutstropfen sei allerdings noch hinzugefügt, dass verschiedentlich sprachliche Fehler den Lesefluss stören. Ein gründlicheres Lektorat wäre dem Buch sehr zu wünschen gewesen.

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