Rezension zu Der Traum
Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 36, 2017
Rezension von Carl Pietzcker
Der Band versammelt ausgewählte Beiträge der Jahrestagung 2012 der
DGPT; sie gewähren unterschiedliche Blicke auf den
psychoanalytischen Umgang mit dem Traum in Geschichte, Theorie,
klinischer Arbeit und Forschung.
Im ersten Kapitel (»Historie«) weist Ilse Grubrich-Simitis bereits
in Freuds Brautbriefen Frühformen seiner anderthalb Jahrzehnte
späteren Deutung von Träumen nach sowie eine allmähliche
Verlagerung seines Interesses von der Neuropathologie zur
Psychopathologie. – Hans-Volker Werthmann untersucht den Konflikt
zwischen Freud und Wilhelm Stekel, einem der wichtigsten Pioniere
der frühen Psychoanalyse im Bereich der Traum-, insbesondere der
Symboldeutung, dessen Funde Freud schätzte, dessen intuitive
Methode er jedoch als unwissenschaftlich ablehnte, was schließlich
zu seiner Verstoßung führte. Werthmann versteht diesen Konflikt
einleuchtend von Freuds eigenem Konflikt her: dem zwischen seiner
naturwissenschaftlichen Sozialisation und seinem ihr entsprechenden
Methodenbewusstsein einerseits und seiner durchaus auch intuitiven
Beobachtungsgabe andererseits, deren nicht systematisiertes
Vorgehen er an Stekel verwarf. – Wolfgang Kupsch skizziert aus
medizinhistorischer Perspektive die Annäherung der Romantiker an
das Unbewusste in Magnetismus, Somnambulismus, Traumtheorie und
literarischem Traum.
Das zweite Kapitel (»Theorie«) leitet Raymond Borens mit einem
Aufsatz ein, der sich wie eine konzise Einführung in das Denken
Lacans liest. Wie das Unbewusste im Spiel der Signifikanten deutend
vorgehe, so sei auch der Traum schon eine Deutung, welche jene
Analytiker verfehlten, die zu wissen meinten, worum es geht, und
ihr nur eine neue Deutung hinzufügten. Vielmehr gelte es, den Traum
zu dekonstruieren, den Analysanden mit seinem Mangel, der
unbestimmbaren causa des Traums, zu konfrontieren und so sein
Wissen um die eigene Fremdbestimmung zu erweitern. – Wie eine
Gegenstimme hierzu liest sich Yigal Blumenberg; er sieht den Wunsch
nach präobjektaler narzisstischer Vollkommenheit als das
entscheidende Movens Freuds, als er, während des Briefwechsels mit
seinem Selbstobjekt Fließ, in monadischer Hochgestimmtheit seine
Traumdeutung schrieb. Dieser Wunsch suche seine Erfüllung auch im
Traum selbst, was Freud übersehen habe, als er sekundäre
Bearbeitung und Rücksicht auf Darstellbarkeit, die beide helfen,
die Traumreizquellen zu einer Einheit zusammenzufügen, gegenüber
Verdichtung und Verschiebung zurücktreten ließ. Den
Synthetisierungsprozess, der den Traum antreibe, führe die Deutung
weiter, weshalb die Träumenden nach ihr auch verlangten. – Für
Peter Giesers vollzog Freuds »Traumdeutung« aus
wissenschaftstheoretischer Perspektive einen Paradigmenwechsel in
der psychologischen Forschung. Sie sei der Prototyp der neuen, der
psychoanalytischen Gegenstandsbildung, der methodischen
Aufbereitung des neuen wissenschaftlichen ›Objekts‹, das nach
vorwissenschaftlichen ›Seherfahrungen‹ in einer bestimmten
Darstellungsweise, die der ihres Gegenstands entspräche – hier z.B.
Bilder und Geschichten –, in Erweiterung eines Theoriekerns – hier
des dynamischen Unbewussten – systematisierend konstruiert werde.
Mit der »Traumdeutung« habe Freud die von ihm konstruierte
psychische ›Realität‹ prototypisch von anderen Wissenschaften
abgegrenzt und neu definiert. Dass er psychoanalytisch mit dem
Traum begann, das habe über die Sicht der Psychoanalyse auf das
psychische Geschehen entschieden. – Andreas Hamburger wendet sich
dem Traum aus kulturhistorischer und phänomenologischer Perspektive
zu. Er versteht Träume als kulturell kodierte historische
Mentefakte, die, über Piaton, Augustin, Leibniz, Schopenhauer hin
zu Freud, auf stets gegenwärtiger Erfahrung gründend,
erkenntnistheoretisch problematisiert, moralisierend kolonisiert,
aus einer Position der Vernunft verworfen, mit der Entstehung des
modernen Subjekts wieder theoretisch interessant, von Freud ins
Subjekt zurückgeholt und heute mit der Neuropsychologie zum
Hirnereignis wurden. Psychoanalytisches Deuten von Träumen
beschreibt er phänomenologisch nach der Scheidung momentaner
Traumerfahrung von Traumerinnerung, Traumerzählung, Anhören des
Traums durch den Analytiker, dessen nachträglicher Niederschrift
durch den Träumer und der durch den Analytiker. Hierbei bedient er
sich des Instrumentariums der Erzählforschung. Die
psychoanalytische Traumtheorie, Freuds schriftlich fixierte
»Traumdeutung« als ›via regia‹, d.h. als Lehrbuch des Unbewussten,
müsse von der psychoanalytischen Erfahrung her weiter geschrieben
werden, die als sinnliches Begreifen das Kodifizierte und scheinbar
Verstandene immer wieder infrage stelle.
Im dritten Kapitel (»Klinische Praxis«) bebildert zunächst Thomas
Abel Widerstandsformen und deren Analyse mit Träumen und deren
Deutung. Danach skizziert Dorothee Adam-Lauterbach die
psychoanalytische Geschwisterforschung und verdeutlicht an zwei
Träumen klinische Aspekte unbewusster Geschwisterkonflikte. Michael
Günter betont, dass die Entstellung anfangs noch leicht zu
entschlüsselnder Kinderträume sich erst mit zunehmendem Alter des
Kindes bis ins fünfte Lebensjahr hin entfalte. Dem Traumdenken
Erwachsener stünden kindliche Phantasie und kindliches Spiel
freilich sehr nahe; oft lasse sich aus kindlichen Erzählungen nicht
erschließen, ob es sich um Problemlösungen in Phantasie, Traum oder
Spiel handle. Das führt er an Zeichnungen vor, die Kinder in
Interviews mit ihm anfertigten. – Christian Maier geht im
Widerspruch zur oft beschriebenen Nähe von Traum und Psychose deren
Differenz nach: Während im Fall der Psychose Affektüberflutung zu
Angst vor Hilflosigkeit und so zur Abwehr in Wahn und Halluzination
führe, könnten Traumbilder intensive Affekte binden und zu deren
Regulierung beitragen. So dienten im analytischen Prozess Träume
als schützender Wall gegen die Psychose, während in dieser selbst
nicht geträumt werde; denn hierzu fehlten Symbolverständnis und
Realitätsbezug. In der Psychosentherapie verweise einsetzendes
Träumen, wie er es hier analysiert, auf die Fähigkeit zur
Affektregulierung. – Jean-Michel Quinodoz stellt Angstträume vor,
die paradoxerweise in Phasen der Analyse auftreten, in denen es
gerade eben zu einem psychischen Integrationsprozess gekommen war.
Er nennt sie »Träume, die eine neue Seite aufschlagen« (S. 218).
Sie zeigten ungewöhnlich klar die Struktur der unbewussten
Phantasien, die dem eben verlassenen Konflikt zugrunde lagen. Sie
könnten dies, und sie könnten es unter Angstentwicklung, weil die
Träumer inzwischen fähig seien, das zu träumen, was bislang nicht
vorzustellen war. In der Analyse markierten sie einen Wendepunkt,
um nun nach Durcharbeiten jener Angst verstärkt Zugang zu
symbolischer Repräsentation zu gewinnen. –Eine Intervisionsgruppe
für Traumanalyse aus Heidelberg berichtet über den strukturierten
Verlauf der Sitzungen, in denen sie über die Fokussierung zuerst
auf den manifesten Traum, dann auf ausgewählte Einzelaspekte und
schließlich über die Auswertung der Teilnehmerbeiträge durch den
Therapeuten, der den Traum einer Patientin erzählt hatte, den
Deutungshorizont dieses Traums erweitern konnte.
Im vierten Kapitel (»Forschung«) berichten zunächst Heinrich
Deserno und Horst Kachele über die Verwendung von Traumserien in
Psychotherapie und Therapieforschung. Es zeige sich, dass in den
während der Therapie erzählten Träumen probeweise Beziehungsmuster
vorgebildet werden, die die Übertragung gestalten und sich so auch
auf die Gegenübertragung auswirken. Würden Traumserien untersucht,
so könne das zu Erkenntnissen führen, die weiter reichten als die
Analyse einzelner Träume und die Therapie so auch voranbringen. –
Der Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker Mark Solms zeigt,
dass die Theorie des ›Protobewusstseins‹, die neueste Theorie Allan
Hobsons, des einflussreichsten Kritikers der Traumtheorie Freuds,
sich dessen Theorie des Traums, besonders der des Primärprozesses
erkennbar annähert, bis auf einen Punkt allerdings: Freud sehe den
Traum als Hüter des Schlafs, Hobson dagegen als Manifestation eines
bewusstseinsgenerierenden Systems, das der Verbesserung und
Überarbeitung von Lernen und Gedächtnis diene und so keines Zensors
bedürfe. Doch dies, so Solms, werde er durch ein Experiment klären.
– Marianne Leuzinger-Bohleher illustriert ihre Überlegungen zum
Traum anhand eines Fallbeispiels aus Langzeitstudien, in welchen
die Wirksamkeit psychoanalytischer und kognitiv
verhaltenstherapeutischer Langzeittherapien verglichen wurde.
Nachdem sie diese großangelegten interdisziplinären Studien
dargestellt hat, demonstriert sie an Träumen eines depressiven
Analysanden, wie diese, lust- und objektsuchend, das Triebgeschehen
und zugleich auch aktuelle wie frühere Objektbeziehungen
thematisieren, Problemlösungen erproben und hierbei den Verlauf der
Therapie markieren. Zudem stelle der manifeste Traum immer auch
embodied memories, also in den Körper eingeschriebene Erinnerungen,
dar.
Den Band schließt ein »Anhang« zu berufspolitischen Fragen. Eine
Arbeitsgruppe formuliert einen Beitrag zur Förderung des
verbandsinternen Dialogs zwischen Psychoanalytikern und Vertretern
einer tiefenpsychologisch fundierten niederfrequenten
Psychotherapie. Georg R. Gfäller erinnert an die politische
Verantwortung der Psychoanalyse und benennt Felder, auf denen sie
ihr nachkommen kann. Hans-Jürgen Wirth zeichnet aus genauer
Kenntnis Leben und Werk Horst-Eberhard Richters nach, Leben und
Werk eines von seiner Wissenschaft her praktisch eingreifenden
gesellschaftskritischen Psychoanalytikers.
Dieser Sammelband kann sein Thema zwar nicht systematisieren, er
zeugt jedoch mit der Vielfalt seiner Perspektiven und Informationen
von dem lebendigen und reflektierten psychoanalytischen Umgang mit
dem Traum und bietet eine ungemein anregende erkenntniserweiternde
Lektüre.