Rezension zu »Er war halt genialer als die anderen«
Jahrbuch für Pädagogik 2013
Rezension von Edgar Weiß
Zum 120. Geburtstag Siegfried Bernfelds am 7. Mai 2012 hat Peter
Dudek im Psychosozial-Verlag, der inzwischen auch das ursprünglich
im Beltz-Verlag begonnene und seit Jahren stagnierende Projekt
einer großen Bemfeld-Werkausgabe übernommen hat, die erste
umfassende Bernfeld-Biografie vorgelegt, – mit einem trotz der 646
Seiten überaus bescheidenen Anspruch. Denn mehr als »biografische
Annäherungen« verspricht sie – dem Untertitel entsprechend – nicht.
Mithin werde allenfalls ein »subjektiver Blick« auf Bernfeld
offeriert, der kaum alle möglichen Interessen an dessen Person und
Werk gleichermaßen befriedigen werde; für ein »abschließendes
Fazit« erweise sich der faszinierend vielseitige Jugendforscher und
Aktivist der Jugendkulturbewegung, Psychoanalytiker, Sozialist,
»Austro-« und »Freudomarxist«, Freudbiograf, Reformpädagoge,
Pädagogikkritiker und zeitweilige Zionist, der »buchstäblich immer
zwischen mehreren Stühlen« saß und dabei nie über einen gesicherten
Brotberuf verfügte, als allzu »sperrig« (S. 593, 14, 12).
Was Dudek bei diesem bescheidenen Eigenanspruch offeriert, ist
gleichwohl ein imposantes, übersichtlich strukturiertes, flüssig
geschriebenes, kenntnisreiches und daher informatives
Gesamtporträt, bei dessen Erarbeitung er sich u.a. auf den bislang
kaum bekannten Bestand des Tübinger Bernfeld-Archivs Ulrich
Herrmanns, nicht zuletzt aber auch auf eine Reihe wichtiger eigener
Vorarbeiten(1) stützen konnte.
Der Einleitung (1), in der u.a. zu erfahren ist, dass das
Titelzitat von Bernfelds zeitweiliger Ziehtochter und späteren
Therapeutin Edith Kramer stammt (S. 9, 15), folgt ein Kapitel unter
der Überschrift »Vom Außenseiter zum Klassiker?« (2), das sich im
wesentlichen mit der Bernfeld-Rezeptionsgeschichte befasst. Mit
Bernfelds Kindheit und Jugend, seiner Rolle in der
Jugendkulturbewegung im Umfeld Wynekens, der Gründung des »Anfang«
und der Sprechsaal-Bewegung, Bernfelds Verhältnis zu Benjamin, zum
Wiener Kries, zur Individualpsychologie und zum Austromarxismus, zu
Karl und Charlotte Bühler, William Stern, Friedrich Wilhelm
Foerster u.v.a. und Bernfelds Konzept einer »multidisziplinären«
(S. 155) Jugendforschung im Kontext dieses seinerzeit aufblühenden
Wissenschaftszweiges beschäftigt sich das Kapitel »Siegfried
Bernfeld – Erste Annäherungen« (3). Unter der Überschrift
»Weltkrieg, Antisemitismus und die Entdeckung des Judentums« (4)
rekonstruiert Dudek sodann die stark antisemitisch geprägten
Lebensverhältnisse in Österreich um die Zeit des Ersten Weltkriegs,
Bernfelds Einstellung zum Zionismus, seine Beziehung zu Anna Freud
und anderen bedeutenden Vertreterinnen und Vertretern der damals
noch jungen psychoanalytischen Bewegung und der »Psychoanalytischen
Pädagogik«, seine Aktivitäten und Erfahrungen im Kontext des
kurzlebigen Kinderheimprojekts Baumgarten, sein Intermezzo als
Sekretär Martin Bubers, seine Rolle in der Wiener
Psychoanalytischen Vereinigung und seine Tätigkeit als
Laienanalytiker in Wien.
Das 5. Kapitel (»Siegfried Bernfeld und die Frauen«) beleuchtet die
drei Ehen Bernfelds, Herkünfte und Lebenskontexte der Ehefrauen und
die Erfahrungen der Bernfeld-Töchter in Wickersdorf, während das 6.
Kapitel einen instruktiven Exkurs über Bernfelds »Sisyphos oder die
Grenzen der Erziehung« bietet. Das 7. Kapitel widmet sich der
»Berliner Zeit« (1925–32), in der Bernfeld »eine Art
Handelsreisender in Sachen psychoanalytischer Pädagogik« (S. 394)
war. Thematisiert werden hier u.a. Bernfelds Verhältnis zu Wilhelm
Reich und zum Bund Entschiedener Schulreformer, die Verhinderung
einer universitären Lehrtätigkeit Bernfelds durch Eduard Spranger,
die von Bernfeld in Zusammenarbeit mit Sergei Feitelberg
unterbreiteten Bemühungen um eine »Libidometrie«, aber auch
Bernfelds gewiss problematisches Konzept einer Massenpädagogik, das
»völlig kritiklos Wynekens Vision des charismatischen pädagogischen
Führers"«(S. 467) für die sozialistische Pädagogik beerben
sollte.
Das 8. Kapitel (»Durchgangsstation Wien: Rückkehr und Exil«)
behandelt vor allem den Emigranten Bernfeld in Menton, London und
San Francisco, wobei auch für diese Zeit das reiche intellektuelle
Beziehungsnetz Bernfelds detailliert aufgewiesen, Bernfelds
isolierte Position in der Psychoanalytischen Vereinigung San
Franciscos und seine Schwierigkeiten, als Laienanalytiker in den
USA Fuß fassen zu können sowie die späten theoretischen und
publizistischen Bemühungen, darunter nicht zuletzt die der
Freud-Biographik geltenden, ausführlich zur Sprache kommen. Ein
kurzer Epilog (9), in dem Dudek auf die Gründe seines eigenen
Interesses an Bernfeld eingeht und auf weiteren Forschungsbedarf
verweist, beschließt den Textteil des interessanten Bandes.
Das überaus fundierte und solide gearbeitete Buch, das – ohne je
distanzlos-unkritisch oder gar hagiographisch zu werden – sichtlich
von der Sympathie des Autors für Bernfeld zeugt, bietet wertvolle
Informationen, die weit über seinen unmittelbaren Gegenstand
hinausreichen. Es enthält aufschlussreiche Fußnoten, in denen sich
immer wieder detaillierte Hinweise auf Dritte finden, mit denen
Bernfeld in irgendeiner Beziehung stand, ein umfassendes
Literaturverzeichnis und ein für die Orientierung hilfreiches
Namensregister. Was selbstverständlich für die künftige
Bernfeld-Forschung gilt, gilt auch für künftige historiographische
Anstrengungen im Hinblick auf Jugendbewegung, Jugendforschung und
Reformpädagogik: Sie werden, sofern sie dem Risiko eines Rückfalls
hinter den erreichten Forschungsstand vermeiden wollen, an der
Rezeption dieses Bandes nicht vorbeigehen können.
(1) Peter Dudek, Jugend als Objekt der Wissenschaften. Geschichte
der Jugendforschung in Deutschland und Österreich 1890–1933,
Opladen 1990; ders., Siegfried Bernfelds Doppelrolle als Aktivist
und Interpret der Jugendkulturbewegung, in: R. Hörster/B. Müller
(Hg.), Jugend, Erziehung und Psychoanalyse. Zur Sozialpädagogik
Siegfried Bernfelds, Neuwied/Berlin 1992, S. 43–58; ders., Fetisch
Jugend. Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld – Jugendprotest am
Vorabend des Ersten Weltkrieges, Bad Heilbrunn 2002; ders.,
»Versuchsacker für eine neue Jugend«. Die Freie Schulgemeinde
Wickersdorf 1906–1945, Bad Heilbrunn.