Rezension zu Gesamtausgabe (SFG), Band 1-4
Psychotherapeutenjournal, 16. Jahrgang, Ausgabe 1, März 2017
Rezension von Ellen Reinke
Zurück zu Freuds Texten – hin zu Freuds Texten?
Seit 2015 gibt der Psychosozial Verlag die erste
Sigmund-Freud-Gesamtausgabe (SFG) heraus. Die ersten 4 Bände liegen
vor. Was veranlasst einen Verlag zu einem solchen Unternehmen in
einer Zeit, in der das Werk Freuds viel von seiner Wirkung in der
Öffentlichkeit und der interdisziplinären Fachwelt verloren hat?
Nach der Vertreibung Freuds und der Psychoanalyse aus Deutschland
durch den Nationalsozialismus hatte es noch einmal eine Rezeption
und Weiterentwicklung in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit
gegeben, danach wurde es eher still – sieht man einmal von den
regelmäßig erscheinenden Polemiken und dem sog. »Freud bashing«
ab.
Das editorische Konzept der SFG schließt alle von Freud für den
Druck bestimmten Schriften ein: Forschungsberichte, zahlreiche
Rezensionen zu den medizinischen und neurologischen
Fachveröffentlichungen seiner Zeit, Artikel in Handbüchern und
Lexika, Vor-und Nachworte zu seinen zum Teil umfangreichen
Übersetzungen, u. a. einer Schrift Jean-Martin Charcots. Charcots
Erkenntnis, dass es sich bei der Hysterie um eine psychische
Erscheinung und nicht um eine Degeneration handelt, hatte Freud
1885 von Paris mit nach Wien genommen. Charcots
klinisch-psychologischer Blick bestimmte seinen
Methodenwechsel.
Die Aufteilung der 23 Bände beschreibt der Herausgeber Christfried
Tögel wie folgt: »1. Die Bände 1–20 enthalten die von Freud zur
Veröffentlichung bestimmten Arbeiten in chronologischer Form. 2.
Band 21 enthält eine Zusammenfassung von Vorträgen, die entweder
unveröffentlicht oder nach Freuds Tod erschienen bzw. von fremder
Hand sind. Außerdem werden hier die Interviews Sigmund Freuds
abgedruckt. 3. Band 22 enthält in zwei Halbbänden ein
Freud-Diarium, das datierbare Ereignisse aus Freuds Leben
unabhängig von ihrer Bedeutung für Freuds Werk auflistet. Der erste
Halbband enthält darüber hinaus von Freud selbst geführte Chroniken
und Kalender. 4. Band 23 enthält ein Gesamtregister.« (Bd. 1, S.
20f.) Jeder Band enthält auch eine Konkordanz zu anderen Ausgaben,
ein Abbildungsverzeichnis, die Literaturliste, sowie das Personen-
und Sachregister.
Das Bedeutsame der SFG besteht u. a. darin, dass eine bisherige
Aufteilung aufgehoben wird: Der Gelehrte wird nicht mehr in einen
frühen, »vor«-analytischen neurowissenschaftlichen Forscher und
einen »eigentlich« psychologischen Deuter der individuellen und
kollektiven Verhältnisse des Menschen aufgespalten. Wenn man
bedenkt, dass sich die Rezeption daran gewöhnt hat, Freud als
abtrünnigen Naturwissenschaftler zu betrachten, der die Pfade der
Wissenschaft zugunsten der Produktion von »Novellen« verlassen
habe, so wird hier nun eine Korrektur möglich. Mancher entdeckt so
zum ersten Mal, dass Freuds neurologische Forschung und
psychologische Praxis ein Jahrzehnt, etwa von 1885 bis 1895,
parallel liefen. Hier spricht ein Mensch des zerrissenen 20.
Jahrhunderts, der seinen wissenschaftlichen Weg geht.
In der Rezeption begegnet man von Anfang an Polarisierungen, die
mit den Verwerfungen des Jahrhunderts parallel laufen. Schon
Krafft-Ebing bezeichnete 1886 Freuds neuen methodologischen Ansatz
als ein »wissenschaftliches Märchen« – dem stand die
durchschlagende Wirkung seit dem Erscheinen der Traumdeutung (1900)
in zahlreichen Disziplinen und der Öffentlichkeit gegenüber. Was
jenseits der Dichotormisierung bleibt, ist ein Werk, dem man die
Liebe zur deutschen Sprache anmerkt und das zu jenen spricht, die
sie lesen, ja vielleicht sogar lieben können. Auf jeden Fall werden
Leserinnen und Leser eine Botschaft Freuds für sich in Besitz
nehmen können: Die nie nachlassende Verpflichtung zur Aufklärung.
»Wir mögen noch so oft betonen, der menschliche Intellekt sei
kraftlos im Vergleich zum menschlichen Triebleben, und Recht damit
haben. Aber es ist doch etwas Besonderes um diese Schwäche; die
Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich
Gehör geschafft hat. Am Ende, nach unzähligen Abweisungen, findet
sie es doch. Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen man für
die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf, aber er bedeutet
an sich nicht wenig. An ihn kann man noch andere Hoffnungen
anknüpfen. Der Primat des Intellekts liegt gewiß in weiter, weiter
Ferne, aber wahrscheinlich doch nicht in unendlicher Ferne.«
(1927c, GW XIV, S. 377).
Zu empfehlen ist die SFG all jenen Kolleginnen und Kollegen, die
lieber das Original lesen, um unter den Ablagerungen von
Idolisierung wie Verdammung von Freuds Werk zu entdecken, was er
selbst geschrieben hat. Davon ist vieles in unsere Alltagssprache
und unsere Wissenschaften – manchmal unerkannt, manchmal
vulgarisiert – eingegangen.