Rezension zu Jacques Lacan trifft Alfred Lorenzer

RISS Zeitschrift für Psychoanalyse. Freud – Lacan, 85. Jahrgang, Heft 1, 2017

Rezension von Karl-Josef Pazzini

Treffen sie sich? Im Buch treffen sie sich. Mehrfach. Auf ganz unterschiedliche Weise. Wenn auch nicht in jedem Beitrag.

Beim Lesen wird deutlich: Lacan und Lorenzer haben die Aufmerksamkeit für die Bedeutung der Sprache in der Psychoanalyse wieder geschärft. Beide haben einen kritischen Impuls gegeben gegenüber dem, wie es so ist, über den je besonderen Veränderungswunsch der Analysanten hinaus. Nicht nur der symbolische, imaginäre und reale »Stoffwechsel« des je individuellen Subjekts ist durch Symptome ins Stocken geraten. Lorenzer und Lacan schärfen die Aufmerksamkeit für den gesellschaftlichen Kontext. Er ist ihnen wesentlich für die Psychoanalyse als Klinik.

Allerdings: Die Unterschiede im referierten Sprachverständnis der beiden Psychoanalytiker sind so eklatant – wie das auch die Beiträge zeigen –, dass es kaum möglich ist, diese zusammenzuführen. – Muss ja auch nicht.

In diesem Buch scheint etwas Anderes auf, das ich der Aufmerksamkeit empfehlen möchte. Weit auseinanderliegende Versionen der Psychoanalyse werden in Kontakt gebracht mit der Frage: Kann es denn sein, dass sie so gar nichts gemeinsam haben? Und mit »sie« sind hier auch die Rezipienten gemeint. Die Antwort von Robert Heim ist: Es gibt etwas Gemeinsames derer, die sich für die jeweiligen Ansätze stark machen, und das ist Übertragungsliebe, auch von Lacan und Lorenzer z. B. zu Freud. Nun mag man das für trivial oder wissenschaftlich irrelevant halten. Aber diese Vermutung bezieht die Bildungen des Unbewussten mit ein, konjektural, die die Orientierungen am manifesten Inhalt des Geschriebenen brechen können. Damit stoßen wir dann auf neue Schwierigkeiten im Verhältnis zu den Ansprüchen, die wir an eine Textinterpretation stellen.

Es handelt sich bei diesem Buch um lauter Texte. Die Fragestellung heißt dann nicht (nur): Haben Lacan und Lorenzer Freud richtig gelesen?, sondern: Was haben die einzelnen, auch die hier schreiben, erlesen (im Sinne von er-wählt) aus dem Halo dessen, was Psychoanalyse genannt wird? Es ist ja schlechterdings nicht möglich, jemandem vorzuschreiben, was und wie er zu lieben hat. Gehört nun aber das Übertragungskonzept ins Zentrum der Psychoanalyse, kann es in der Transmissions- und Traditionsgeschichte der Psychoanalyse nicht draußen bleiben. Das betont auch André Michels am Ende seines Beitrages (128).

Und Robert Heim: »Über Jacques Lacan und Alfred Lorenzer zu sprechen heißt – wie immer in der Psychoanalyse – von der Liebe nicht schweigen zu können, schon gar nicht von der Übertragungsliebe, von der die Wirkung ihrer Werke zehrt. Dies ist mit ein Grund, weswegen wir der hier dokumentierten Tagung als Leitmotiv ›Noch einmal/Encore auch‹ vorangestellt haben. Natürlich ist es eine Anspielung auf Lacans sperriges Seminar aus dem Jahr 1972/73 (...).« (130)

Es kann nicht darum gehen, infolge dieser Einsicht lieb zu sein, sondern im Horizont des Schreibens etwas von der Entschiedenheit und auch Unverständlichkeit und Fremdheit anderen Liebens zu thematisieren. Das ist dann oft ein Gestus, der auch von Aggressivität getragen sein kann. So wie in einer Rezension. Robert Heim führt diesen Modus sehr weitgehend vor, indem er in seinem Schreiben einen Briefwechsel zwischen Lacan und Lorenzer fingiert, der Genauigkeit, Zuwendung, Abgrenzung, Ironie, Ablehnung und Übereinstimmung zum Tragen kommen lässt. Sie streiten darin um die Konzeption der Sprache. In einem zweiten Teil seines Beitrages widmet sich Heim der unterschiedlichen Interpretation des »Kleinen Hans« unter der Lacan/'schen Frage »Was ist es, ein Vater zu sein?«. – Ein Motiv, das schon bei Prokop anklingt. – Der »Kleine Hans« ist auch Exempel für Simonelli im gleichen Buch. Bei Simonelli kann man, etwas verknappt gesagt, lesen, dass Freud die Unwahrheit über den Fall sage, Lacan dabei gegen seine eigenen Prinzipien verstoße und Lorenzers Version zeige, wie wichtig die Gegenübertragung sei. – Heim zeigt dagegen die Mutationen des »Vaters« als Funktion von Freud zu Lacan auf und deutet an, wie deren Fehlen bei Lorenzer korrespondiert mit einer utopischen Erwartung, gespeist aus spezifischer Marxlektüre, – die ich kritisieren würde. Die Mutter als erste Mittlerin zwischen Kind und Gesellschaft kann und muss so in Frage gestellt werden.

Von der Einleitung Modenas über die einzelnen Beiträge hinweg wird in Variationen der Wille deutlich, die Psychoanalyse und damit auch ihre Praxis aus dem Schein einer medizinischen Spezialdisziplin herauszuholen, ferner der Versuch, die Verwebung des je individuellen Subjektes mit der Gruppe und der Gesellschaft, zu der es mittels Sprache gehört, aufzuklären und vom Individualismus des autonom zu denkenden Subjekts wegzukommen. Ein produktives Rätsel bleibt beiden Autoren, was dann das Unbewusste sei, wenn man es nicht als mühsam vom Einzelnen unter Kontrolle zu haltende Gefahr einer Explosion, eines Agierens oder von Fehlleistungen sehen kann.

Beide Theorien sind Ausformungen der Psychoanalyse, lesbar als Wunschproduktionen und Träume von Psychoanalyse. Was hat uns gefehlt, was würde uns nicht schlafen lassen, wenn es nicht eine Psychoanalyse dieser oder jener Art gäbe? Die Gestalten dieser Träume sind vielfältig. Indem sie geträumt werden, sind sie mögliches Material der Psychoanalyse, die all das ohne Metatheorie (im Gegensatz zu der Behauptung Lorenzers) bestreiten muss. Anstelle der Metatheorie und der Metasprache bleiben Spaltungen und die Leidenschaften der Ignoranz, des Hasses und eben der Liebe.

Der Rezensent macht keinen Hehl daraus, dass er einmal aus Verzweiflung wegen der Medizinalisierung der Psychoanalyse, herkommend aus kritischer Theorie und Kunst, die Lorenzer/'sche Version der Psychoanalyse wie eine Befreiung rezipiert und genutzt hat. Es trieb ihn weiter, weil die Harmonisierungstendenz, die Rekonstruktion von Sinn, insbesondere das Re-, ihm nie einleuchtete auf dem Hintergrund der Erfahrungen in und mit der Kunst und in der analytischen Kur. Er ging dann zur intensiveren Rezeption von Lacans Überlegungen über, in der Hauptsache wegen des Anregungspotentials und der Anknüpfungsmöglichkeit an die Erfahrung als Analytiker und Analysant. Die Lacan/'sche Version ist schmerzlich und genussreich offen, die von Lorenzer erinnert an das faszinierende Ideal des Klaren und Distinkten. Lorenzer ist an der Oberfläche der semantisch greifbaren Theoriegestalt politischer, im Sinne des Weiterdenkens eines historischen Materialismus und einer entsprechenden Kapitalismuskritik mit der Psychoanalyse. Lacan bietet eine größere Beweglichkeit im Auffinden des äußerst widersprüchlichen Konnexes zwischen neoliberalem Kapitalismus und individueller Subjektivität. Beide Haltungen sind aber, wenn man das so holzschnittartig im Durchgang durch die Beiträge des Buches sagen kann, in der jeweils anderen theoretischen Fundierung auffindbar. Auch bei den Lacanianern (gibt es die?) gibt es vom Gestus des Theoretisierens her zuweilen Verwandtschaften mit Lorenzer. Eine solche ist etwa zu finden bei Peter Widmer, der in einer sehr genauen, knappen, klaren und distinkten Beschreibung der Lacan’schen Diskursmatheme als Sprachspiele Lacans Konzeption von Sprache systematisiert. Inhaltlich wird für einen Leser Lorenzers, auch wenn Lorenzer nicht erwähnt wird, der Unterschied zu dessen an Wittgenstein orientiertem »Sprachspiel« deutlich. Bestechend ist Widmers Fähigkeit, auch verstreute Äußerungen Lacans in eine Zusammenschau zu bringen, die Anregung für weitere Fragen sein kann. – Widmer lesend habe ich mich gefragt, warum es bei Lacan keinen auch nur annähernd ähnlichen Text, inhaltlich oder stilistisch, gibt. – Lacan denkt und arbeitet wohl anders.

Wir erkennen »das Ziel der psychoanalytischen Operationen, nämlich etwas Unsprachliches, Triebhaftes, Phantasmatisches, Bildhaftes, Sprachloses oder wie immer man das Objekt a umschreiben kann, zu subjektivieren, ins singulare Ich zu überführen« (27). Im Zusammenhang des vorliegenden Buches könnte man noch weitergehen und vom singulären Ich aus bzw. dazu parallel durch Zeugenschaft (des Analytikers) und die Niederschrift seiner Forschung dieses Ich (oder Objekt a?) mit der Gesellschaft, dem Diskurs als sozialem Band verknüpfen.

Hans-Dieter Königs Beitrag ist ganz und gar auf Seiten Lorenzers. Er glaubt unumwunden an die Möglichkeit einer Metatheorie (35) und ihre Distanzierungsvoraussetzungen, betet die übergriffige und heimholende Formel von Habermas (und Lorenzer) vom »szientistischen Selbstmissverständnis« Freuds nach. Kann man die Metapsychologie retten (41), wenn zunächst Freud als Naturwissenschaftler, der sich selbst missversteht, charakterisiert wird? Die Sprengkraft Freud/'scher Klinik und Theorie ergibt sich doch daraus, dass er Naturwissenschaftler blieb, in der jüdischen Tradition stand (die nicht unbedingt hermeneutisch ist) und dadurch vor der klassischen Hermeneutik gefeit war. Es folgt ein informatives Referat der Theorieentwicklung Lorenzers. Am Beispiel der Mutter-Kind-Dyade wird die im Verhältnis zu Lacan ganz andere Architektur der Theorie Lorenzers deutlich, wenn Sprache in ihrer realen Dimension nicht vorkommt, sondern sich auf die kommunikative und interaktive Funktion beschränkt. Dann kommt sie eben erst konkret nach der Geburt vor, nicht aber schon als Einbettung der gesamten sogenannten Dyade in ein sprachliches Band. Dieses Band entfaltet selbst über die für das Embryo vernehmbare reale Dimension der Sprache Wirkungen. Aber auch sonst wäre ja schon etwas Drittes existent, da die Mutter in ein sprachliches und imaginäres Umfeld eingelassen ist, ohne das sie wohl kein Kind austragen könnte. Es lässt sich auch lesen, dass König wie Lorenzer an einer herstellbaren Einigung interessiert ist. Nicht dass sie einträfe. Sie bleibt ausrichtende Utopie, was sich auch an den klinischen Exkursen aus Königs Praxis ablesen lässt. Dem intellektualisierenden Sprechen des Zwangsneurotikers fehle der affektive Anteil der Worte (36). Genau den versucht Lacan in seiner Art der Theoriebildung (hysterisch) erstehen zu lassen, durch Abgrenzung, Ironie, Sarkasmus, Übertreibung, Witz, wissenschaftlich genaues Arbeiten, scientoides Formulieren und Sprachspiel. Bei Lorenzer kommt kaum Affektives als Bewegung entgegen, nur deren Bezähmung.

Die Herstellung einer Einigung als eine zutreffende Repräsentation kommt noch einmal deutlich in Königs Lektüre von Lacans Spiegelstadium zum Tragen: Er bekommt nicht mit, dass das Spiegelbild bildet und sieht es in einer anzueignenden Abbildfunktion. Das Kind erkennt sich keineswegs dort wieder (53 und 57). Das Bild wird zur Stütze und durch das Sprechen die Sprache ebenso, also keineswegs allein die Mutter. Die Sprache trennt. Das Kind wird das abbildende Vorbild nie einholen. Für König ist das nicht beruhigend. Er glaubt an familiale und gesellschaftliche Prozesse, die eine Alienation, also eine ›Veränderung‹ – auf Deutsch klingt ›Entfremdung‹ wie etwas Schlechtes – vermeiden können. In Bezug auf die von Heim herausgestellte Übertragungsliebe ist er in der Metapher des platonischen Gastmahls bei dem Teil der Intervention Diotimas gelandet, wo sie von den Kugelmenschen erzählt. Man könnte fast glauben, der Kugelmensch bliebe wiederherzustellende Utopie.

Lacan und Lorenzer konzentrieren sich auf die Sprache, beide gehen von einem Engpass aus, den die Sprache, Größenphantasien einschränkend, zu einem gleichzeitig mächtigen Medium der Möglichkeiten macht. Es wird in den Beiträgen deutlich, dass dies auf ganz unterschiedliche Weise in der Rezeption zur Darstellung kommt. Man sieht den Beiträgen des Buches sehr schnell auf der inhaltlich transportierten Ebene an, wer sich an Lacan orientiert und wer an Lorenzer. Es gibt aber noch eine andere Ebene, auf der etwas von Übertragung greifbar wird, ohne dass diese wie bei König autoritativ herbeigerufen werden müsste.

So enthält das Buch zwei Beiträge, die Goethes Wahlverwandtschaften zum Gegenstand haben. Marianne Schuller gibt zu erkennen, dass sie mit Lacan, Ulrike Prokop mit Lorenzer Goethe liest. Bei beiden – ist das der Vorlage geschuldet? – kommt ein fast gemeinsames Verständnis des individuellen Subjektes zum Tragen. Das Subjektverständnis aller Beiträge ließe sich auf einer Skala markieren: Vom Autonomieideal der Aufklärung, in deren Folge jeder einen eigenen Verstand haben soll, bis zu einem Subjektverständnis, das eher Unterworfensein, gleichzeitig aber auch damit Unterlagesein, fast ein Fundament, gleichzeitig ein Unterlegensein ist, das in der Anerkenntnis Spielräume schafft. König ist sicher der Aufklärungsposition nahe, Lorenzer auch, Widmer ist inhaltlich kritisch, vom Duktus aber nicht weit weg davon, Schuller gibt zur Kenntnis, wie sich Goethe mit dem Unterworfensein unter den Signifikanten und der existentiellen Dimension auseinandersetzt. Simonelli sucht sein Heil darin, dass er sich in sicherer Distanz hält, damit das Autonomieideal als Farce aufführt, die Unterwerfung umgeht und zum Originalgenie wird. Michels versucht ähnlich wie Heim die Ambiguität, vielleicht auch das Paradox beider Positionen schreibend zu halten. Die Herausforderung jenseits des Buchs ist, dabei handelnd Entscheidungen zu treffen.

Prokop und Schuller zeigen mit Goethe, wie die individuellen Subjekte der Schrift, dem Buchstaben, dem Sprechen, den symbolischen Plätzen, von denen aus sie handeln, unterworfen sind und gleichzeitig dies alles fundieren. Im Kontext der »Wahlverwandtschaften« gibt es ein Entrinnen nur durch eine Hyperästhetisierung, »einen Himmel auf Erden« (Schuller) oder eine Überführung in eine »Heiligenlegende« (Prokop). Schullers wunderbar einfacher Text führt unaufdringlich Lacan/'sche Gedanken weiter: »Wenn Palindrome davon leben, dass Wörter aus Buchstaben zusammengesetzt sind, dann zeigen sie zugleich, dass Buchstaben sich dadurch auszeichnen, dass sie gegen den Sinnverlauf des Wortes resistent bleiben und, wie im Falle Otto, eine Umkehr der Leserichtung erlauben, die dann zu neuen Verschlingungen und Anordnungen führt oder führen kann« (71). Solcherart Persistenzen, die an das widerständige, fundierende und bedrohliche Reale erinnern, machen deutlich, dass es etwas inmitten von Kommunikation und Interaktion gibt, das sich Intentionen schwerlich fügt.

Anders macht Prokop etwas Ähnliches. Hier ist es nicht der Buchstabe, sondern die Aggressivität, die Goethe offenbar bis zur Unerträglichkeit kaschiert, um seiner Kritik an den »vernünftigen«, leidenschaftslosen und damit symbiotischen Lebensformen Nachdruck zu verleihen. »Alles ist zivilisiert – und doch nicht richtig. Der Erzähler verwickelt den Leser in ein schwebendes Geschehen, bei dem wir dankbar sind, dass es nicht zum destruktiven Aggressionsausbruch kommt (...). Das Sprechen der Figuren trägt zur Klärung wenig bei. Alle Gespräche enden damit, dass alle in der Gruppe der vier beieinanderbleiben, dass niemand sich entfernt« (83). Sie weist darauf hin, dass Goethe in diesem Roman das Väterliche ausklammere. Der Rezensent bekam zwischen-durch den Eindruck, diese aufmerksame Lektüre der »Wahlverwandtschaften« sei auch eine Kritik und Weiterführung von Lorenzer, der den Trieb bei Freud biologistisch missversteht und interaktioneil eskamotiert (»Trieb Summe der Interaktionsformen« 46), wie auch Mitscherlich kaum die Funktion des Vaters ausarbeitet, sondern eher an die konkrete Person denkt. Wie im Roman geht die Leidenschaft dabei unter. Ottilie »verweigert sich dem kleinen Tod durch Vergessen und Vergehen« (88). »Der Text ist eine Provokation: einerseits Inbegriff des vernünftigen Denkens als Protokollbericht eines Experiments, andererseits Verhöhnung der Aufklärung im Herausstellen des Unverfügbaren.« (89) Schuller und Prokop zeichnet aus, dass sie in einer irritierenden Weise das, was an der Oberfläche des Romans liegt, auflesen können, das, was man nie so ganz wahrgenommen hat. Ist das dann Tiefenhermeneutik?

Das Buch fördert die Relationen zwischen unterschiedlichen psychoanalytischen Arbeitsweisen, ohne nach deren Einheit zu streben.

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