Rezension zu Das lebendige Gefüge der Gruppe
Familiendynamik. Systemische Praxis und Forschung. 42. Jahrgang, Heft 2/2017
Rezension von Fritz B. Simon
Raoul Schindler (1923–2014) gehörte zu den Pionieren im
deutschsprachigen psychosozialen Feld, die entscheidenden Einfluss
auf die Psychiatriereform, die Familientherapie, die
Schizophrenietherapie sowie die Theorie der Gruppe und die Praxis
gruppen-dynamischer Trainings gewonnen haben. Trotzdem teilt er das
Schicksal vieler bemerkenswerter und einflussreicher
Persönlichkeiten in unserem Feld, dass nämlich ihre Verdienste über
ihren Tod hinaus relativ wenig gewürdigt werden, weil sie nur
relativ wenig geschrieben haben.
Einige der seltenen, aber für die Entwicklung von Theorie und
Praxis hochrelevanten Arbeiten Schindlers sind jetzt, zusammen mit
einer Würdigung seines Lebenswerks, in einem Sammelband erschienen.
Im ersten Kapitel des Buches stellen Judith Lamatsch und Andrea
Tippe die Biografie Schindlers in den historischen Kontext. Sie
beginnen bei der Herkunftsfamilie, schildern seine Jahre an der
Wiener Universitätsklinik (1949–1960), in der er seine Methode der
»Bifokalen Familientherapie« entwickelte, schließlich sein Wirken
als Primarius (Chefarzt) einer psychiatrischen Abteilung
(1960–1988), seine auch danach unverminderten
gesundheitspolitischen Aktivitäten, seine Rolle bei der
Psychiatriereform, seine Bedeutung für die Entwicklung der
Gruppendynamik in Österreich, bei der Formulierung und Durchsetzung
des – in Europa einzigartigen – österreichischen
Psychotherapiegesetzes.
Seiner Bedeutung für die Entwicklung der Gruppendynamik, die kaum
zu überschätzen ist, gilt das nächste Kapitel (Andrea Tippe,
Christina Spindler und Ursula Margreiter). Hier zeigt sich, dass
neben der Praxis immer auch die Institutionalisierung und
Professionalisierung des psychosozialen Felds im Fokus seiner
Aufmerksamkeit stand. Im dritten, von den Herausgebern verfassten
Kapitel (Konrad Wirnschimmel und Christina Spalier) wird als
gemeinsamer Nenner seiner Arbeit das Interesse an Gruppen
thematisiert.
Im zweiten Teil des Buches werden dann einige der höchst
einflussreichen Artikel Raoul Schindlers abgedruckt. An erster
Stelle ist hier die Arbeit »Bifokale Gruppentherapie bei
Schizophrenen« (1952) zu nennen. In ihm wird deutlich, wie weit
Schindler seiner Zeit voraus war. Er war der Erste im
deutschsprachigen Raum, der eine eigene Methode der
Familientherapie entwickelte (lange vor Horst-Eberhard Richter oder
Helm Stierlin): die »Bifokale Familientherapie«. Er praktizierte
diese Methode der Multi-Familien-Therapie für als schizophren
diagnostizierte Patienten und ihre nächsten Angehörigen zu einer
Zeit, als diese Patienten fast ausschließlich mit Insulin- oder
Elektroschock behandelt wurden (Ende der 1940er Jahre, vor
»Erfindung« der Psychopharmaka). Eine Gruppe von ca. 7 bis 10 in
stationärer Behandlung befindliche Patienten wird dabei zu
regelmäßigen (mehr oder weniger psychoanalytisch orientierten)
Therapiesitzungen zusammengebracht, und parallel dazu treffen sich
die Angehörigen in einer Angehörigengruppe. Derselbe Therapeut, der
in der Patientengruppe die Elternübertragungen der Patienten auf
sich zieht, wird mit Kind-übertragungen in der Elterngruppe
konfrontiert. Diese Übertragungsprozesse und den Umgang mit ihnen
analysierte er ausführlich und detailliert im Artikel
»Übertragungsbildung und Übertragungsführung in der Psychotherapie
von Schizophrenen« (1954).
Nach einigen Artikeln, die heute weniger brennenden Themen gelten
(»Psychohygienische Aufgabe im Heimkehrerproblem«, »J. L. Moreno
durchbricht einen depressiven Stupor«), wendet sich das Buch auch
heute noch hochaktuellen Themen zu. Es sind Arbeiten zur
Gruppendynamik. Sie resultieren aus Schindlers Erfahrungen mit
Gruppenprozessen im Rahmen der Therapie. Aber sein Interesse
verschob sich von der Gruppentherapie zu Gruppenprozessen im
Allgemeinen, was bei ihm nicht nur zur (Mit-)Gründung einer
Fachgesellschaft (ÖAGG – Österreichischer Arbeitskreis für
Gruppendynamik und Gruppentherapie) führte, sondern wiederum auch
zur Theorieentwicklung: »Grundprinzipien der Psychodynamik in der
Gruppe« (1957) kann mit Fug und Recht als Klassiker bezeichnet
werden. Hier entwirft er zum ersten Mal sein Konzept der
Rangdynamik in Gruppen. Er analysiert, wie sich charakteristische
Funktionen innerhalb einer Gruppe ihre Repräsentanten suchen, die
inzwischen berühmten Alphas, Betas, Gammas und Omegas ... In den
folgenden Kapiteln/ Artikeln wendet er dieses Modell dann auf
praktische Fragestellungen an, was sich in seinen hier wieder
abgedruckten Publikationen zeigt, von denen nur einige der
wichtigsten Titel genannt seien: »Soziodynamik der Krankenstation«
(1957), »Soziodynamische Aspekte der >Bifokalen Gruppentherapien
(1959), »DÖS psychodynamische Problem beim so-genannten
schizophrenen Defekt« (1960), »Der Gruppentherapeut und seine
Position in der Gruppe« (1961), »Personalisation in der Gruppe«
(1964), »Familientherapie in offener Gruppe im Rahmen einer
Angehörigengruppe« (1966), »Was lehrt uns die Gruppenerfahrung für
das Verständnis der Psychodynamik bei schizophrenen Psychosen«
(1968), »Das Verhältnis von Soziometrie und Rangordnungsdynamik«
(1969), »›Pars pro Toto‹ in gruppendynamischer Sicht« (1970),
»Krise der Gruppe: Beratung durch die Gruppe« ...
Themen wie Macht und Organisation stehen im Mittelpunkt der
weiteren Arbeiten. Die einzelnen Kapitel beschäftigen sich
zunehmend mit gesundheitspolitischen Fragestellungen, wie etwa der
Psychiatriereform und der Organisation der Psychotherapie.
In all seinen Arbeiten zeigt sich die für Schindler typische
Kombination von Pragmatik und theoretischer Reflexion, die seinen
beruflichen Lebensweg bestimmte. Dies dürfte auch einer der Gründe
gewesen sein, warum Schindler im Jahre 1967 mit Kollegen die
gruppendynamischen Seminare in Alpbach begründete. Dort war es
möglich, sowohl bewährte Gruppenmethoden zu erlernen, als auch in
Großgruppensettings sozialpsychologische und systemische
Experimente zu vollziehen. Auch diesem Abschnitt seines
professionellen Lebens widmet sich ein Kapitel (»Wandel des
Gruppenverständnisses anhand 20 Jahre Internationale
Trainingsseminare in Alpbach« (1986)).
Eine persönliche Nachbemerkung sei mir verziehen: Für mich war
Raoul Schindler der gruppendynamische Mentor, der mir als
Co-Trainer eine Arbeitsbeziehung auf Augenhöhe anbot und mit seiner
Neugier und Experimentierlust ein Beispiel dafür lieferte, wie man
ernsthaft und theoretisch reflektiert unorthodox arbeiten kann.
Dies war wohl auch das Geheimnis seiner außerordentlichen
Wirksamkeit für die Entwicklung und Institutionalisierung der
Psychotherapie in Österreich, wie sie sich etwa im österreichischen
Psychotherapiegesetz zeigt.
Ein Autor, den wiederzuentdecken sich lohnt (zumal er nur relativ
wenig geschrieben hat), vor allem auch, weil seine Arbeiten
deutlich machen, wie verarmt die Psychiatrie inzwischen geworden
ist, die sich – zumindest in ihrer akademischen Variante –
weitgehend von den Methoden psychosozialer, familienbezogener und
institutionsbezogener Interventionen verabschiedet hat, für die
Raoul Schindler stand.