Rezension zu Bindung und Autonomie in der frühen Kindheit (PDF-E-Book)
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Rezension von Sibylle Lüpold
Wunderbares Buch, das den Horizont erweitert
Zugegeben, Ursula Henzingers neues Buch ist mit über 400 Seiten
keine leichte Bettlektüre. Nichtsdestotrotz habe ich es geradezu
verschlungen, und das obschon ich zum Thema Bindung schon einiges
gelesen habe. Ursula Henzinger schafft es, mit einer Fülle an
Fachwissen und unzähligen Anekdoten aus ihrem Berufsalltag, meinen
Horizont mit vielen kleinen, aber entscheidenden Puzzleteilchen zu
erweitern. Nach dem Lesen des Buches scheint mir mein Bild der
frühkindlichen Entwicklung und des Bindungsaufbaus um einiges
klarer und vollständiger zu sein.
Das Buch beginnt mit der Erklärung, was Humanethologie genau ist
und welchen Sinn und Zweck Forschungen in traditionalen Kulturen
haben. Weiter behandelt es die Sonderstellung des Menschen im
Tierreich, das menschliche Bindungsverhalten im Vergleich zur
tierlichen Prägung, die Synchronisationsprozesse in der frühen
Mutter-Kind-Bindung und wie solche begünstigt werden. Spannend ist
das Kapitel über die sozialen Fähigkeiten resp. die Entwicklung von
der Stimmungsübertragung, über die Intuition, Empathie, Theory of
Mind bis hin zur Reflexionsfähigkeit des Menschen.
Der Leser bekommt eine gute Zusammenfassung zur Bindungsforschung,
speziell zum sogenannten Zürcher Modell, das die klassische
Bindungstheorie erweitert.
Die Erfahrungen und Erkenntnisse aus Henzingers eigener
Feldforschung sind sehr bereichernd und sowohl für Eltern als auch
für Fachleute, die mit Klein-kindern arbeiten, von grosser
Bedeutung. Henzingers Beobachtungen und Wissen ermöglichen es, die
Entwicklung des Kindes vom Neugeborenen, über den Säugling bis hin
zum Kleinkind zu verstehen. Das ist eine wichtige Grund-lage, um
ein Kind oder ein Mutter-(Vater-)Kind-Paar angemessen zu begleiten.
Hier geht es um Themen wie Nähe-Distanz-Regulation, Bindung und
Autonomie, (nonverbale) Kommunikation, soziales Verhalten, Spiel
und Geschwisterbeziehungen, aber auch Trotz und Aggression.
Henzinger bezieht sich stark auf das von Prof. Wulf Schiefenhövel
skizzierte Evolutionäre Modell der Eltern-Kind-Bindung, das unter
anderem intensiven Körperkontakt (Haut-zu-Haut), Tragen, Stillen
nach Bedarf und gemeinsames Schlafen (Co-Sleeping) beinhaltet. »Je
differenzierter eine Gesellschaft ist, desto weniger spielt
körperliche Nähe in Beziehungen mit«, so Henzinger. Sie erklärt die
Entwicklung des Betreuungsverhaltens unserer Vorfahren zum
modernen, westlichen Stil der Kinderbetreuung. Neu für mich war
u.a. die Er-kenntnis, dass der Sinn von (aus heutiger Sicht
sinnlosen) kulturellen Bräuchen wie dem Kolostrum-Tabu darin
lag/liegt, die Mutter von Schuldgefühlen zu befreien, sollte sie
sich aus irgendeinem Grund gegen ihr Kind entscheiden.
Ursula Henzinger schafft es genauso wie Sarah Blaffer Hrdy, die
Autorin des genialen Buches »Mutter Natur«, dem Leser
gesellschaftliche Entwicklungen in Bezug auf die
Eltern-Kind-Bindung zu erklären, ohne in irgendeiner Hinsicht
moralisch oder dogmatisch zu sein.
Sehr berührend ist auch die Geschichte der Gans Feli, die es trotz
fehlender Mutterliebe als Junges nach mehrmaligen tragisch
verlaufenden Versuchen schafft, selbst eine liebevolle Mutter zu
sein. Diese Geschichte macht Mut, dass auch Menschenmütter mit
ungünstigeren Rahmenbedingungen es dank guter Unterstützung
schaffen können, ihrem Kind das zu geben, was es braucht.
Ich kann dieses wunderbare Buch allen Fachleuten, die sich mit der
Eltern-Kind-Thematik beschäftigen, aber auch allen interessierten
Eltern nur wärmstens empfehlen.
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