Rezension zu Briefe an Jeanne Lampl-de Groot 1921-1939
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Rezension von Gertrud Hardtmann
Thema
Der sich über viele Jahre erstreckende Briefwechsel, von dem leider
nur die Briefe von Freud (70 ausgewählte von 76) und nicht die von
Lampl-de Groot erhalten sind (letztere wurde auf ihren Wunsch von
Anna Freud vernichtet), enthält neben Alltagssorgen, Gedanken über
Publikationen und Kollegen und die Entwicklung der Psychoanalyse im
Zusammenhang mit den Bedrohungen durch das NS-Regime. Freud zeigt
in diesen Briefen ein sehr lebendiges, zupackendes, selbst- und
fremdkritisches Interesse an persönlichen, politischen und
theoretischen Entwicklungen.
Herausgeberin
Gertie F. Bögels war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der
Psychiatrischen Klinik der Universität Nimwegen und arbeitet z.Zt.
als Psychiaterin, Psychoanalytikerin, sowie Dozentin und
Supervisorin, und ist Mitherausgeberin der niederländischen
Tijdschrift voor Psychoanalyse.
Entstehungshintergrund
Entstehungshintergrund ist die Bekanntschaft von Freud und Lampl-de
Groot, die nach dem Medizinstudium 1922 bei Freud in Wien eine
Ausbildungsanalyse begann und – mit Unterbrechungen – auch in den
Folgejahren fortsetzte. Nach ihrer Heirat arbeitete sie seit 1925
in Berlin als Psychoanalytikerin. 1938 emigrierte sie mit ihrem
jüdischen Mann nach Holland und hielt weiterhin bis zu seinem Tod
1939 engen brieflichen Kontakt mit Freud und war maßgeblich am
Aufbau der Niederländischen Psychoanalytischen Vereinigung
beteiligt und in internationalen Gremien – zahlreiche
Veröffentlichungen zu psychoanalytischen Themen – bis zu ihrem Tod
1985 tätig.
Aufbau
In der Einleitung (3 S.) berichtet Gertie Bögels, dass sie 76
Briefe von Freud aus der Library of Congress in Washington und
weitere Informationen von Jeannes Tochter und Schwiegersohn
erhalten habe. Die Briefe von Lampl-de Groot wurden von Anna Freud
auf ihren Wunsch 1939 vernichtet. Die Transkription
(Sütterlinschrift) besorgte Gerhard Fichtner.
Gertie Bögels: »Biografische Notizen« (20 S.). Der persönliche und
berufliche Werdegang von Jeanne Lampl-de Groot werden ausführlich
beschrieben, ihre frühe Traumatisierung durch den Tod einer
jüngeren Schwester und die anschließende Depression der Mutter,
(die später noch einmal auftrat nach dem Tod einer 21 j. älteren
Schwester von Lampl-de Groot,) konnten in der Analyse bei Freud
aufgearbeitet werden. Der wachsende Antisemitismus in der Berliner
Zeit erschwerte die weitere berufliche Entwicklung und führte 1939
mit ihrem jüdischen Mann und den zwei Töchtern zur Emigration nach
Holland; diese war durch die inzwischen angenommene deutsche
Staatsbürgerschaft nicht leicht.
Beruflich emanzipiert hat Lampl-de Groot die Familie, die
praktische und wissenschaftliche Arbeit auch unter schwierigen
politischen Bedingungen bewältigen und über die persönliche
Freundschaft mit Freud und seiner Tochter Anna hinaus zahlreiche
internationale Beziehungen anknüpfen können.
Die »Briefe von Freud« (72 S.) umfassen den Zeitraum von 1921 –
1939 und zeigen einen sehr modernen, aufgeschlossenen,
kinderfreundlichen und -interessierten Freud: ›Bei der heutigen
Stellung der Geschlechter macht es keinen Unterschied, ob das Baby
manifest männlich oder weiblich ist.‹ (S. 54). Er bezieht sich auf
die enge Mutter-Kind-Beziehung angesichts der Tochter von Lampl-de
Groot mit der Formulierung ›… noch eins mit ihrem einzigen Objekt‹.
-(S. 55), sieht Erziehung als ›Mittelweg zwischen Gewährenlassen
und Abhalten‹ (S. 56) und äußert Sympathie für die – noch –
›einstöckigen‹ Kinder im Gegensatz zu den ›mehrstöckigen‹
schwierigen Erwachsenen (S. 58) und fragt sich, warum beim Menschen
die ›Knospen immer so erfreulicher sind als die Blüten‹ (S. 67).
Der Schmerz der älteren Geschwister gegenüber dem sich
ankündigenden Jüngeren gehöre ›zum Leben‹ (S. 60) dazu und solle
einem Kind nicht erspart bleiben.
Freud kritisiert auch die ›unmoralische Beziehung‹, (wenn ein
ärztlicher Kollege sich für seine Arbeit nicht bezahlen lässt,) für
ihn ein Grund zum Abbruch dieser Beziehung. Er trifft lockere
Vereinbarungen, was Termine und Umlegungen anbetrifft, enthält sich
nicht sehr persönlicher Mitteilungen auch im Hinblick auf
körperliche Beschwerden auf seiner Seite und ehelichen Problemen
auf ihrer (S. 69). Er schreibt über Unannehmlichkeiten des Alltags:
›… wieder was los, was nicht sein sollte.‹ (S. 77) und über das
Leid von Angehörigen: ›Unsere Nächsten und Liebsten als
Naturprodukte zu betrachten wie alles andere und die ihnen
bestimmten Schicksale anzunehmen, ist vielleicht noch schwerer, als
sich in die eigenen Schicksale zu finden.‹ (S. 78); er erwähnt die
Probleme in allzu nahen Beziehungen (S.99), wenn psychische
Erkrankungen, die ›Idealität der Person‹ aufheben (S. 107).
Freud ist hart in seinem Urteil gegen über Kollegen: Reich und
Fenichel werden als ›bolschewistische Angreifer‹, bezeichnet (S.
71). Umsturz und Unordnung waren ihm verhasst (S.73), doch zeigte
er als Ungläubiger auch Toleranz gegenüber Gläubigen: ›Als
Interjektion ist Gott doch nicht zu entbehren.‹ (S.75).
Er gibt Hilfen zu wissenschaftlichen Arbeiten: Theoretisches von
Beobachtbarem trennen und warnt vor einem ›Zuviel‹ an Gedanken (S.
97).
Politisch äußert er sich Ironisch und kritisch, dass im Programm
von Hitler der einzige positive Punkt ›die Judenhetze‹ sei (S.103).
Er bezeichnet die Nazis als Räuber, da er die Erpressung von Hab
und Gut 1938 nach dem erzwungenen Umzug nach London befürchtet (S.
118). Kritisch äußert er sich über Einsteins Beitrag ›Warum Krieg‹
(S. 103) und hat vor 1938 noch Hoffnungen, dass sich Österreich
politisch, unter Hinweis auf einen ›bodenständigeren Faschismus‹
(S.114), anders entwickeln werde als Deutschland (S.108/9). Das
›kulturelle Gewissen‹, Fremde gastlich aufzunehmen, sei oft nicht
allzu entwickelt (S.113).
Die ›Mosesarbeit‹ bezeichnet er als ›Bruchstück‹ (S. 115) und
äußert sich einerseits selbstkritisch ›wie unvollständig doch alle
meine früheren Analysen waren!‹ (S.119), andererseits auch
überkritisch gegenüber Kollegen: ›Eigentlich haben wir doch nur in
Wien ordentliche Analyse getrieben‹ (S. 121), was möglicherweise
auch mit der in London schwelenden Kontroverse um Melanie Klein zu
tun hat (S. 122).
Der letzte Brief ist datiert vom 3. April 1939.
Ein Kommentar der Herausgeberin Gertie Bögels enthält
Brieffragmente von Lampl-de Groot an ihre Eltern 1921–1923 (32 S.).
Lampl-de Groot ist auf die finanzielle Unterstützung der Eltern
angewiesen, um die Ausbildung und den Aufenthalt in Wien bestreiten
zu können und muss dabei Überzeugungsarbeit leisten, die ihr umso
leichter fällt, je intensiver sie selbst aufgrund eigener Erfahrung
von der psychoanalytischen Methode überzeugt ist und auch
Selbstvertrauen gewinnt, nicht nur selbst Patienten zu behandeln
sondern – wenn auch zunächst schüchtern – eigene Beiträge zur
theoretischen Themen zu leisten.
Schwierigkeiten würden wir heute mit der fehlenden Distanz zwischen
Analytiker und Analysand haben, wenn Lampl-de Groot auf die Anfrage
von Freud ihren offensichtlich großzügigen Vater um finanzielle
Unterstützung für einen bedürftigen Patienten (der ‚Wolfsmann‘
wahrscheinlich) und für den Verlag bittet.
Wien ist für die junge Frau auch kulturell interessant (Theater.
Konzerte, Museen), und offensichtlich findet sie nach einem eher
ernüchternden Medizinstudium in der psychoanalytischen Tätigkeit
eine Arbeit, die sie ›außerordentlich interessiert‹, insbesondere
da es offensichtlich auch in der Analyse bei Freud ›dann und wann
viel zu lachen‹ gibt.
Trotz Multinationalität im psychoanalytischen Verein (Amerikaner,
Engländer, Schweizer, Deutsche) kriecht – nach Freud – ›jede
Nationalität in ihr eigenes kleines Eckchen‹: als einzige
Holländerin somit ›ein Eckchen für mich allein‹. Sie ist sehr mit
Freud und seinen Ansichten identifiziert, z.B. auch mit der frühen
altersgemäßen Aufklärung von Kindern, und empfiehlt ihrer Mutter,
Freud zu lesen. Die Internationalität beschäftigt sie auch auf
ihrem ersten Kongress in Berlin 1922. Sie spricht in den Briefen
über Kollegen und, wenn auch anonymisiert, über Patienten.
Sicherlich idealisiert sie eine Zeitlang Freud und die
Psychoanalyse, was bei den Eltern Besorgnis und ihrem Ehemann
unbegründete Eifersucht hervorruft, da es sich ganz zweifellos um
ein sehr gutes Arbeitsbündnis handelt. Das zeigt sich auch in dem
schönen Bild, das Freud für die Psychoanalyse gewählt hat, das sich
aber auch auf das Unbewusste anwenden lässt: eine italienische
Renaissancekirche, die im Laufe der Jahrhunderte verändert, aber
dennoch in ihrem Kernbestand erhalten bleibt. Wissenschaft sei
allerdings ›kein Ersatz für einen Katechismus‹, müsse vielmehr
ständig infrage stellen, um zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Die
Psychoanalyse sei eine Erfahrungswissenschaft, die dennoch der
Theorie als Arbeitshypothese nicht entbehren könne (S. 158).
Sorge macht ihr bereits 1923 die politische Entwicklung in
Deutschland und der Antisemitismus in Österreich.
Nachwort von Joachim Danckwarth (S. 6), der zunächst auf die
Unterschrift Freuds ›Herzlich der alte, taube XX‹ (1933) eingeht.
Das ›taube XX‹ wird von Danckwarth als religiöses Symbol der Taube
interpretiert, die nach der Sintflut (Sündflut) die Erlösung mit
einem Olivenzweig ankündigte, übertragen i.S. einer rettenden
Inspiration. Er geht dann auf die Todestriebhypothese 1920 (Beginn
der Arbeit mit Lampl-de Groot 1921) ein, die Gegenstand gemeinsamer
Erörterungen wurde, an den Abschied von Anleihen bei der Biologie
und die Diskussion über die Todestriebhypothese: »Die Bejahung –
als Ersatz der Vereinigung – gehört dem Eros an, die Verneinung –
Nachfolge der Ausstoßung – dem Destruktionstrieb« (Freud 1925).
Später entwickelt Freud jedoch aus der mit der Verneinung
gekoppelten Symbolbildung – Verneinungssymbolbildung – positiv neue
spielerische und gekonnte aggressive Handlungsmodalitäten.
Lampl-de Groot sei gleichzeitig Zeugin und Dokumentarin (in ihren
wissenschaftlichen Arbeiten und in den Briefen an die Eltern) im
Übergang von biologischen Tatsachen- zu hermeneutischen
Erfahrungshypothesen gewesen, aber auch Autorin eigenständiger
Beiträge, z.B. ›Entwicklung des Ödipuskomplexes bei der Frau›.
Danckwarth weist auf die besondere Qualität dieser Dokumente i.S.
einer entscheidenden Stufe in der Entwicklung psychoanalytischer
Theorie hin und greift noch einmal auf die ‚Taubenhypothese‘
zurück: »Die Taube plündert niemanden aus«.
Diskussion
Es handelt sich um eine zeitgeschichtliche Dokumentation eines
intensiven brieflichen Austausches über persönliche, theoretische
und politische-soziale Probleme, die Freud als einen sehr
lebendigen, an alltäglichen und gleichzeitig auch theoretischen
Problemen und Fragen interessierten Lehrer, Freund und kritischen
Begleiter zeigen, der mit wachem Interesse kindliche Entwicklungen
beobachtet, kritisch sich selbst und Kollegen gegenüber die Fort-
und Rückschritte in der Theoriebildung begleitet und aus der
ironischen Distanz auch die Schwächen des ›Programms‹ der Nazis
beobachtet. Dass über manche Thesen – z.B. Todestriebhypothese –
bis heute gestritten wird, entbindet einen nicht der Verantwortung,
sich mit den Überlegungen von Freud auseinanderzusetzen.
Wer daran interessiert ist, Freud von einer sehr menschlichen
privaten, fast familiären Seite, aber auch theoretisch und
politisch an einem lebendigen Austausch interessierten Menschen
näher kennenzulernen, dem ist dieses Buch zu empfehlen, auch wenn
beim Lesen immer wieder frustrierend ist, dass man die andere Seite
dieser Beziehung, die Briefe von Lampl-de Groot, leider nicht zu
lesen bekommt.
Fazit
Ein zeitgeschichtliches Dokument, das einen lebendigen und
anregenden Eindruck einer wohl für beide Seiten fruchtbaren
Lehrer-Schüler- oder Analytiker-Analysand-Beziehung vermittelt.
Rezensentin
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 03.04.2017 zu: Sigmund Freud:
Briefe an Jeanne Lampl-de Groot 1921-1939. Psychosozial-Verlag
(Gießen) 2017. ISBN 978-3-8379-2568-5. Gertie F. Bögels (Hrsg.).
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/22419.php, Datum des Zugriffs
05.04.2017.
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