Rezension zu Über Psychoanalyse
www.spektrum.de am 22. März 2017
Rezension von Patrick Trappendreher
In jeder erzählten »Wahrheit« steckt ein Funken Fiktion. Das
glaubte der französische Philosoph Paul Ricœur (1913–2005). Selbst
die eigene Autobiografie werde konstruiert – wie eine
Geschichte.
Aus diesem Grund hat er sich Zeit seines Lebens für Sigmund Freud
interessiert. Der Band besteht aus verschiedenen Schriften und
Vorträgen des Hermeneutikers, in denen er sich der Psychoanalyse
gewidmet hat. Ein Teil davon ist zuvor noch nie veröffentlicht
worden. In den Beiträgen setzt sich der Philosoph zum einen
kritisch mit methodischen Grundlagen wie dem Empirie-Begriff in der
Psychoanalyse auseinander: Was gilt bei Freud als nachprüfbare
Tatsache? Wie wird diese erhoben und ausgewertet?
Zum anderen beschreibt Ricœur die Psychoanalyse als eine
Kulturtheorie. Sie beschäftige sich nicht mit dem menschlichen
Begehren als solches, sondern mit »menschlichem Begehren in seiner
mehr oder weniger konflikthaften Beziehung zu den kulturellen
Einrichtungen«, sprich: zu Eltern, Staat, gesellschaftlichen Tabus,
Kunstwerken oder Religionen. Die Psychoanalyse sei laut Ricœur
»weit davon entfernt, sich ohne jede Referenz auf Kunstwerke
begründet zu haben«. So griff Freud bei der Namensgebung des
»Ödipus-Komplex« auf eine Gestalt aus der griechischen Mythologie
zurück. Umgekehrt habe auch die Psychoanalyse Einfluss auf die
Kunst, was sich besonders in den Werken der Wiener Moderne
beobachten lasse.
Das Buch deckt ein breites Spektrum von Ricœurs Überlegungen zu
Freud ab. Trotz der Komplexität der Gedanken sind sie auf Grund des
flüssigen Stils verständlich und dabei stets anregend und
herausfordernd. Das ist sicherlich auch der hervorragenden
Übersetzung von Ellen Reinke zu verdanken.
Es bleibt die Frage, ob Ricœurs Ausführungen heute noch relevant
sind, schließlich sind die Arbeiten zwischen 1962 und 1988
entstanden. Dem kann man jedoch entgegensetzen, dass der
französische Hermeneutiker vor allem im deutschsprachigen Raum
wenig rezipiert wurde, obwohl er zu den bedeutendsten Philosophen
des 20. Jahrhunderts zählt. Schon allein aus einer historischen und
wissenschaftsphilosophischen Neugier heraus lohnt sich daher die
Lektüre.
www.spektrum.de