Rezension zu Musik und das ozeanische Gefühl
Melodie und Rhythmus, September/Oktober 2015
Rezension von Susann Witt-Stahl
Anderswelt
Sigmund Freud beschrieb das ozeanische Gefühl als einen seelischen
Zustand »unauflösbarer Verbundenheit mit dem Ganzen«, das die
Ichgrenzen verschwinden lässt. Man kann es, wie der Gründer der
Psychoanalyse, als einen Rückfall in eine frühkindliche Phase
begreifen, in der (noch) keine Subjekt-Objekt-Differenzierungen
möglich sind. Man kann das ozeanische Gefühl aber auch als
Wegweiser zum tieferen Verständnis des Wesens der Musik entdecken.
»Musik gehört zu jenen Phänomenen, die aus einer Anderswelt zu uns
herübertönen, in der die Dinge nicht disparat voneinander
geschieden sind, sondern in einer undifferenzierten Einheit
beieinander liegen. Das versteht unser Verstand nicht, deswegen
hören wir Musik auch nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Gefühl,
das sich in all jenen Fällen, in denen Musik uns zu berühren
vermag, zu einem ozeanischen Gefühl weitet.« Allein diese beiden
Sätze eröffnen Horizonte jenseits unserer verdinglichten
zwischenmenschlichen Beziehungen und sind schon Grund genug, den
Musikpsychoanalytiker Bernd Oberhoff und fünf weitere hochkarätige
Autoren, darunter der Musiker Barnim Schultze und der Romantiker
E.T.A. Hoffmann, auf ihre »Expedition ins Innere der Musik« zu
begleiten.
Wer sich einmal die Gesichter von Menschen anschaut, während sie
sich kollektiv in Puccinis Arie »Nessun Dorma« versenken, der
versteht die Dimension von Oberhoffs Feststellung, dass Musik das
Gegenteil von Sprache ist – nicht zuletzt weil sie sich über jede
Widerspruchslogik hinwegsetzt. Damit erschließt sie uns ein »Reich
des schönen Wahnsinns«, ohne den wir wohl vor lauter Schmerz an den
herrschenden Verhältnissen verrückt werden würden.