Rezension zu Bezogenheit und Differenzierung in der therapeutischen Dyade
Persönlichkeitsstörungen. Theorie und Therapie 1/2017
Rezension von Horst Kächele
Der bedeutende Psychologe und Psychoanalytiker Sidney Blatt, der
jahrzehntelang am Yale Psychiatric Institute in den USA forschte,
ist in Deutschland relativ wenig rezipiert. In vielen Arbeiten
schrieb er über ein psychodynamisches Verständnis der Depression,
das auf theoretischen Formulierungen und empirischen Erkenntnissen
aus unterschiedlichen Quellen einschließlich der
Entwicklungspsychopathologie, der Kognitions- und
Entwicklungspsychologie, der sozialen und Persönlichkeitstheorie
sowie der psychiatrischen Genetik beruht. Blatt versteht die
Depression nicht als eine Krankheit, sondern sieht in ihr
Verzerrungen der normalen Entwicklung zweier fundamentaler
psychischer Prozesse: Beeinträchtigung der Fähigkeit zu
interpersonaler Bezogenheit sowie Unfähigkeit zum Erwerb einer
Selbstdefinition oder Identität.
Die vorliegende Monografie von Ingrid Erhardt entstand im Kontext
des von Prof. Wolfgang Mertens geleiteten Münchener Bindungs- und
Wirkungsforschungs-Projekts. Sie greift auf die von Blatt
entwickelten Konzepte zurück und fokussiert auf die empirische
Untersuchung differenzieller Veränderungsprozesse in
psychoanalytischer und psychodynamischer Psychotherapie.
Nach der Einleitung liefert das zweite Kapitel eine umfassend
angelegte Übersicht zu fast allen gegenwärtig aktuellen
Fragestellungen der allgemeinen und speziellen
psychoanalytisch-psychodynamischen Therapieforschung.
Das dritte knappe Kapitel skizziert die leitenden Fragestellungen
der Studie.
Das vierte Kapitel informiert über die Einbindung dieser
Untersuchung in drei Forschungsprojekte, deren Vorgehensweisen für
die Konkretisierung der Untersuchung und beschreibt die
Untersuchungsstichprobe, die realisierten Interventionen und die
Instrumente der Untersuchung.
Das fünfte Kapitel referiert dann die Ergebnisse der Studie.
Mit einer kritischen Diskussion der Befunde wird die Darstellung
der Studie im sechsten Kapitel abgerundet.
Generell ist festzuhalten, dass diese Studie sich dem
Prozess-Ergebnis-Paradigma der Psychotherapieforschung verpflichtet
sieht. Außerdem ist sie eindeutig einem naturalistischen
Forschungsansatz zuzuordnen – im Kontrast zur experimentellen
RCT-Forschung – der für den Fortgang der Forschung eine möglichst
große Binnendifferenzierung der Erkenntnisleistung für notwendig
erachtet. Diesen Stand der Dinge im zweiten Übersichtskapitel
herausgearbeitet zu haben, ist äußerst verdienstvoll; die Studie
zieht dann auch die entsprechenden Konsequenzen für die
Auswertungslogik.
Weiterhin ist für die Studie charakteristisch, dass sie Instrumente
zur Kennzeichnung von Patienten- und Behandlervariablen heranzieht,
die bisher im deutschen Sprachraum nur selten eingesetzt wurden.
Die intensive Schulung in der Methode des PQS – durch einen
Studienaufenthalt an der Harvard Arbeitsgruppe gefördert –
ermöglicht der Untersucherin einen Erkenntnisgewinn, wie
psychotherapeutische Technik und spezielle Persönlichkeitsvariablen
(z. B. die Blattschen Kategorien anaklitisch versus introjektiv)
interagieren und welche Bedeutung der Arbeitsbeziehung in diesem
Vermittlungsprozess zukommt.
Von den reichhaltigen Ergebnissen ist interessant, dass sich zwar
Unterschiede zwischen anaklitischer und introjektiver
Persönlichkeitskonfiguration hinsichtlich technischer Variablen des
PQS aufweisen lassen, dass aber kein Unterschied hinsichtlich des
Grades an struktureller Veränderung nachweisbar ist.
Es unterscheiden sich erfolgreiche und nichterfolgreiche Therapien
hinsichtlich technischer Parameter, was vielfältige Anregungen zur
didaktischen Umsetzung ergibt.
Last not least, im Hinblick auf die Relevanz der Persönlichkeiten
beider am therapeutischen Prozess Beteiligten sind die positiven
Befunde zur komplementären Passung hervorzuheben. Diese
Untersuchung belegt, wie der reichhaltige Fundus an bestehendem
empirischen Wissen zur Prozess-Ergebnis-Beziehung in weiterführende
Fragestellungen münden kann und muss. Naturalistische
Untersuchungen haben (neben einer pragmatischen Funktion zu
sichern, was tatsächlich gemacht wird) auch die Aufgabe
herauszuarbeiten, was besser gemacht werden könnte.