Rezension zu Unpolitische Wissenschaft? (PDF-E-Book)
neues deutschland vom 22.03.2017, Beilage zur Leipziger Buchmesse
Rezension von Werner Abel
Zwischen den Stühlen.
Andreas Peglau entdeckt den Psychoanalytiker Wilhelm Reich neu
Am 14. Juli 1893 rekapitulierte Friedrich Engels in einem Brief an
Franz Mehring: »(W)ir alle haben zunächst das Hauptgewicht auf die
›Ableitung‹ der politischen, rechtlichen und sonstigen
ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen
vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt
und ›legen müssen‹. Dabei haben wir dann die formelle Seite über
der inhaltlichen ver¬nachlässigt: die Art und Weise, wie diese
Vorstellungen etc. zustande kommen.« ›Formell‹ war es freilich ganz
und gar nicht, was hier ausgelassen wurde: die Entstehung der
Motive menschlichen Handelns, inklusive jener psychischen
Strukturen, die hochgradig ›vor‹ jedem Kontakt zur Arbeitssphäre
geprägt werden – in Kindheit und Familie.
Diese Lücke hat niemand konsequenter zu schließen versucht als
Wilhelm Reich (1897–1957), Psychoanalytiker jüdischer Herkunft,
Sigmund-Freud-Mitstreiter und -Antipode, seit 1925 Mitglied in
linken Parteien Österreichs, ab 1930 – nun in Berlin lebend – der
KPD. Hier engagierte er sich an führender Stelle in der KP-nahen
Sexualreformbewegung, avancierte nach Freud zum populärsten
psychoanalytischen Autor deutscher Sprache. Am 10. Mai 1933 war er
dann einer von nur vier Analytikern, deren Bücher in der
»Reichshauptstadt« Berlin verbrannt wurden; kurz darauf trafen ihn
mehr NS-Verbote als seine sämtlichen Berufskollegen. Ebenfalls noch
1933 entzog die internationale Psychoanalytikerorganisation Reich
die Zugehörigkeit, weil er deren Anpassungskurs an das NS-Regime im
Wege stand. Nahezu zeitgleich wurde er aus der kommunistischen
Partei ausgeschlossen, da er angeblich zu psychoanalytisch
argumentiert und so vom Klassenkampf abgelenkt hatte.
Reichs während der ausgehenden Weimarer Republik gewonnene
Erkenntnisse fasste er 1933 in seiner »Massenpsychologie des
Faschismus« zusammen: eine Analyse psychosozialer Grundlagen der
Europa prägenden »rechts«-autoritären Regime, des enormen Erfolgs
Adolf Hitlers und des Versagens der Linken im Kampf gegen ihn. Bis
heute sind Reich und sein Werk sowohl in der Psychoanalyse wie auch
in der Linken weitgehend verdrängt – bedauerlicherweise.
Andreas Peglau, selbst Psychologe und Psychotherapeut, engagiert
sich seit langem dafür, diese Verdrängung aufzuheben. Als
wichtigstes Ergebnis jahrelanger Recherchen veröffentlichte er 2013
das Buch »Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die
Psychoanalyse im Nationalsozialismus«. Es dürfte zu Wilhelm Reichs
120. Geburtstag am 24. März für historisch Interessierte und vor
allem heutigen Berufskollegen eine ergiebige Erkenntnisquelle
sein.
Zu der in ihrer Materialfülle einzigartigen Aufarbeitung sind
weitere 40 Extraseiten hinzugekommen. Sie informieren über Reichs –
zeitweise wohl von der Komintern gelenktes – geheimes Wirken in der
KPÖ und über seine Tätigkeit innerhalb des »Einheitsverbandes für
proletarische Sexualreform und Mutterschutz«. Zudem über seine
Freundschaft zu dem KPD-Abgeordneten Theodor Neubauer und seine
Mitwirkung im Initiativkomitee zur Vorbereitung jenes 1932 in
Amsterdam abgehaltenen Antikriegskongresses, dessen Organisation
maßgeblich Willi Münzenberg oblag. Aber auch über die
Verstrickungen von Psychoanalytikern in die psychologische
Kriegsführung des »Dritten Reiches« und in die gegen Faschisten wie
Kommunisten gleichermaßen gerichteten Aktivitäten von
US-Geheimdiensten hat Peglau Zusätzliches zu berichten.
Man sollte sich nicht vom beachtlichen Umfang dieses Buches
abschrecken lassen. Es sei hier versichert, dass es erstens
prägnant und flüssig geschrieben ist. Zweitens handelt es sich um
eines der wichtigsten Bücher zur Geschichte der Psychoanalyse, das
deren Niedergang von einer sozialkritischen Theorie und Praxis zur
medizinalisierten, ›angeblich‹ »unpolitischen« Wissenschaft
erstmals detailliert nachvollziehbar macht. Und drittens bietet es
die Wiederentdeckung eines herausragenden linken
Sozialwissenschaftlers, dessen Werk von aktueller Brisanz ist:
Reichs 1933 zu Papier gebrachte Erkenntnisse werden dringend
benötigt, um den europäischen »Rechtsruck« nicht nur zu verstehen,
sondern ihm auch angemessen entgegen zu treten.