Rezension zu Wege der Trauer

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Rezension von Joachim Gneist

Thema

Jede Trauer ist so individuell wie unser Fingerabdruck. Tod trifft uns zwar als elementarster Verlust, doch zu bewältigen ist er auf dem Hintergrund des bisherigen Lebens: Altersstufen folgen Erfahrungen, Beziehungen können zerbrechen, Angehörige und Partner sich trennen oder das Heimatland verlieren (wie Volkan selbst), loslassen eigener Kinder (auch im übertragenen Sinne). So zeigen Autor und Autorin durchgängig eine übergreifende Perspektive. Sie referieren nicht, sondern erzählen das.
Autor und Autorin

Volkan ist zyprisch-türkischer Herkunft, 1932 geboren und emigrierte nach dem Medizinstudium schon 1957 in die USA. Dieser Schritt erklärt sein vorrangiges Interesse an Wegen aus Trauer zum Leben. Er ist emeritierter Psychiatrieprofessor in Virginia, ausgebildeter Psychoanalytiker und Supervisor, wandte sich früh dem »psychopolitischen Dialog« zu, d.h. beschäftigte sich mit bewussten und unbewussten Gruppenidentitäten. Er gründete zahlreiche Zentren in den USA, hielt Vorträge und Seminare in aller Welt. Über ein Dutzend seiner Bücher wurden ins Deutsche übersetzt.

Zintl ist eine deutsche Journalistin. Beide wurden mit internationalen Preisen geehrt.

Aufbau und Inhalt

Die Autoren entfalten die Thematik in drei Teilen.

1. Sich und anderen zu »unkomplizierter Trauer« zu verhelfen, erfordert erst die verlorene Beziehung zu bewerten und dann loszulassen. »Uns mit Freude an jemand erinnern, ohne von Schmerzen wegen seiner Abwesenheit ergriffen zu werden.« (S. 43)

2. Anders verhält es sich mit der »komplizierten Trauer«, wenn wir im Verleugnen feststecken oder ein Verlust ungelöst bleibt. »Wenn die Toten weiter leben«, schreibt Russell Baker in seinen Memoiren: »Meine Mutter nun tot für die Welt, aber immer noch frei in meinen Gedanken herumschweifend, weckt mich an manchem Morgen vor Tagesanbruch auf: ›Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann einen Drückeberger!‹ … Ich spüre, wie das Ungestüm ihrer Energie mit dem nichtsnutzigen Schweinehund in mir kämpft.« Einem Freund schrieb Freud an dem Tag, als seine Tochter 36 geworden wäre: »Alles, was an die Stelle rückt, und wenn es sie auch ganz füllen sollte, bleibt doch etwas anderes.« (S. 106) Nicht jeder kann sich durch Schreiben befreien. Volkan lässt sich von »ewig Trauernden« Geschichten erzählen. Lieder, Gesten, Redewendungen und andere verbindende Phänomene können eine Rolle spielen, die abgelegt werden muss. Sehr berührt, wie Volkan das Betrauern von Fehlgeburten erzählt, die ja in der Vergangenheit in ihrer Bedeutung von der Umgebung heruntergespielt wurden. Auch Kinder sind je nach Lebensalter, in dem sie einen Verlust erleiden, bereits in der Lage ein »psychisches Double« zu installieren, das ihnen Sicherheit und Trost gibt. Die Autoren widmen sich ausführlich der Wichtigkeit eines guten Ersatzes (S. 117).

3. Schließlich wird unter »Lösungen« betont, dass die meisten Trauernden keine professionelle Hilfe suchen oder brauchen. »Als Gesellschaft können wir den Trauernden helfen, wenn wir mit dem Tabu aufräumen, dass über den Tod nicht gesprochen werden sollte« (S. 123). Volkan stellt Selbsthilfe-Gruppen vor, wendet sich als Psychiater gegen »die Mode, Medikamente zu verschreiben« und macht Mut zur Kurzpsychotherapie. Darin geht es oftmals um Wut und Enttäuschung hinter eher fassadenhafter Trauer. Solange der Patient von dem verlorenen Anderen besetzt ist, fehlt zwischen sich und der verlorenen Person zu unterscheiden. Volkan selbst lernte erst im Alter sich von der Sicht seiner Familie zu distanzieren, die auf ihn Erwartungen an einen vor Volkans Geburt verstorbenen Onkel gleichen Vornamens projiziert hatte ( S. 103). Träume zu besprechen kann sehr helfen, einen Trauerprozess erstmals zu erleben und dann abzuschließen. Träumen kann auch kreativ machen. So schrieb eine Patientin ihrem verstorbenen Vater in einem Brief von zurückliegenden Schuldgefühlen und dass sie jetzt erkenne, dass sein Tod ihr Chancen eröffnet habe.

Diskussion

Seit 50 Jahren arbeitet Volkan einzel- und gruppentherapeutisch und als Supervisor. Seit seinen Ausbildungen engagiert er sich auch in ethnischen und nationalen Konflikten. Aber lange dauerte es, bis er seinen ganz persönlichen Verlust zu betrauern lernte, »meine Identität als Türkisch-Amerikaner und meine Anpassung an das Leben in den USA«. Analog zu seiner innerseelischen Konfliktbewältigung ist Volkan überzeugt, dass auch gespaltene Ethnien und verfeindete Nationen ihre Wunden heilen und sich dann versöhnen können. Die vielleicht wichtigste Aufgabe sei, »projektive Identifikationen« zurückzunehmen. Dabei schreiben sowohl Individuen als auch Völker und andere Gruppen einen Teil von sich selber anderen zu und bekämpfen ihn dort – was Friedensverhandlungen auf jeder Ebene blockiert.

Fazit

Ein erzählerisch spannend formuliertes, glänzend recherchiertes und mit authentischen Fallgeschichten angereichertes, gesellschaftspolitisch aktuelles Fachbuch zum Thema Leben mit Trauer und Verlust. Also eine willkommene Handreichung für Betroffene und Trauerbegleiter in jeder Richtung. Ist im Wortsinne »wärmstens« zu empfehlen!

Rezensent
Dr. med. Joachim Gneist
Psychiater, Psychotherapeut, Evang. Theologe, Sachbuch- und Roman-Autor.

Zitiervorschlag
Joachim Gneist. Rezension vom 22.03.2017 zu: Vamik D. Volkan, Elizabeth Zintl: Wege der Trauer. Leben mit Tod und Verlust. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2016. 3. Auflage. ISBN 978-3-8379-2613-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/22041.php, Datum des Zugriffs 22.03.2017.

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