Rezension zu Gesichter der ostdeutschen Transformation

Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat. Ausgabe Nr. 39/2016

Rezension von Mandy Palme

Die zu rezensierende Publikation weckt mit ihrem Titel die Erwartung einer sowohl vielschichtigen als auch differenzierten Darstellung einzelner Biographien von Menschen, die in der DDR geboren wurden und den Prozeß der Wiedervereinigung Deutschlands miterlebten. Seit Beginn der langjährigen Studie erscheint nun nach mehreren Publikationen zur Auswertung der regelmäßig erhobenen empirischen Daten und deren Analysen eine Arbeit, die neben einem einleitenden Überblick zur Studie fünfzehn Personen erstmals persönlich zu Wort kommen läßt. Hierbei finden sich sowohl frühere Meinungsäußerungen der einzelnen Befragten als auch aktuelle Darstellungen ihrer persönlichen Entwicklung sowie ihrer dazugehörigen Verortung im gesellschaftlichen Gefüge und der jeweiligen politischen Situation.

Das Besondere der Untersuchungen ist zum einen die Teilnahme der Personen über einen Zeitraum von nahezu drei Jahrzehnten und zum anderen die Bandbreite des hieraus resultierenden historischen Rückblicks. Die Sächsische Längsschnittstudie begann 1987 mit der Befragung von 1.407 Schülerinnen und Schülern des Jahrgangs 1973 in den damaligen Bezirken Leipzig und Karl-Marx-Stadt, betreut vom damaligen Zentralinstitut für Jugendforschung der DDR. Auf dieser Grundlage wurden die Untersuchungen über die durch die Wiedervereinigung hervorgerufenen politischen und gesellschaftlichen Änderungen und Anpassungsprozesse fortgeführt und begleiteten sodann eine Gruppe Ostdeutscher auf ihrem Lebensweg vom DDR- zum Bundesbürger. Die an die Teilnehmer gerichteten Fragen umfaßten nunmehr Themen wie politische Grundeinstellungen, kollektive Identitäten, rechtsextreme, ausländerfeindliche und autoritäre Einstellungen, Lebensorientierungen und Werte, gesellschaftliche und persönliche Zukunftszuversicht, subjektives Befinden, Familienbildung, Kinderwunsch und vieles mehr. Verschiedene Stiftungen unterstützen die Weiterführung der Untersuchungen bis heute. Einen Längsschnittvergleich ermöglichendes Äquivalent aus den alten Bundesländern liegt nicht vor, so daß die westdeutsche Perspektive zu den Transformationsprozessen nicht dargestellt werden kann.

Unter Vernachlässigung der wissenschaftlichen und empirischen Daten der Studie fokussiert die vorliegende Publikation auf die persönlichen Ansichten der fünfzehn Teilnehmer, die von insgesamt 328 Studienteilnehmerinnen einen entsprechend kleinen Ausschnitt möglicher Ansichten offenlegt. Einleitend wird die Sächsische Längsschnittstudie vorgestellt, ihr ursprünglicher Beweggrund offengelegt und auch ihre zentralen Ergebnisse dargestellt. Hieran anschließende Ausführungen zur Repräsentativität der Studie enthalten einzelne Stichproben von Erhebungen, wodurch die gesammelten Daten und ihre Analyse nachvollziehbar werden. Im Hauptteil der Arbeit finden sich die Berichte der Studienteilnehmer. Diese umfassen kurze biographische Informationen, denen sich Fragen zum ursprünglichen Beweggrund zur Teilnahme an der Studie sowie frühere Stellungnahmen und eigene Aufsätze anschließen. Einen direkten persönlichen Zugang vermitteln die Fotos der Befragten aus den 1980er/90er Jahren sowie aus den Jahren 2014/2015.

Über den langen Untersuchungszeitraum von 28 Jahren wurden unterschiedliche Fragen an die Teilnehmer gestellt, die sie entweder knapp in Stichpunkten oder auch in Aufsatzform beantworteten. An der aktuellen Meinungsäußerung zur Frage »25 Jahre deutsche Einheit, wie sie diese erlebt haben und heute wahrnehmen« haben alle 15 Personen teilgenommen. Allerdings liegen nicht von allen Teilnehmern zu allen Fragen die Antworten vor, wodurch der Leser herausgefordert ist, die auftretenden Leerstellen nicht selbständig zu interpretieren. Auffallend sind die gemeinsamen Schnittstellen in der Bewertung und Wahrnehmung der persönlichen Entwicklungen vom DDR-Bürger zum Bundesbürger, die alle fünfzehn Befragten in ihren Antworten gleichsam thematisieren (vor allem gesellschaftliche Strukturen, Sicherheitsgefühl, Bildungs- und Gesundheitssystem). Im Vergleich mit den heute geschätzten vielfältigen Entfaltungsmöglichkeiten und einem freiheitlichen Lebensgefühl liegt eine große Übereinstimmung darin vor, daß die in der DDR Aufgewachsenen auf eine unbeschwerte Kindheit, weitgehende Arbeitsplatzsicherheit und einen größeren sozialen Zusammenhalt zurückblicken. Diese Ausführungen der Befragten lesen sich wie ein empirischer Beleg für die These Michael Meyens über die angeblich durch die Medien vermittelte einseitige Sicht auf die DDR als Diktatur und die davon doch stark abweichenden subjektiven Erinnerungen. (Meyen, Michael: Wir haben freier gelebt. Die DDR im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, Bielefeld 2013) Meyen kam in seiner Untersuchung der Mediendiskurse in Verbindung mit einer Gruppendiskussion zu dem Schluß, daß die »Erinnerangslandschaft DDR« in Ost und West noch immer sehr unterschiedlich ausgestaltet ist. Wenngleich die DDR vor allem als Diktatur erinnert wird und diese Sichtweise weitestgehend von den einzelnen übernommen wird, fallen die Ausführungen der befragten Ostdeutschen vielschichtiger aus. Diese zaghaft geäußerten positiven Erinnerungen an eine behütete Kindheit, ein spürbares soziales Miteinander und eine grundlegende Zukunftssicherheit bilden quasi die Identitätssäulen der in der DDR Sozialisierten. So läßt sich auch in den Darstellungen der Teilnehmer der Sächsischen Längsschnittstudie ein komplexes Bild ebendieser subjektiven Vielschichtigkeit erkennen. Diese Aufsätze ergänzen Meyens These dahingehend, daß sehr persönliche Einblicke das große Feld der eigenen – sowohl gesellschaftlichen als auch individuellen – Verortung berühren. Zudem eröffnen die letzten Erhebungen der Sächsischen Längsschnittstudie eine zunehmende Annäherung der ost- und westdeutschen Erinnerungslandschaften. So unterliegt auch die Bewertung der deutschen Einheit seit 1990 einer deutlich positiven Entwicklung, die wiederum in Wechselwirkung mit der einsetzenden Annäherung zwischen Ost- und Westdeutschen steht. Die Frage, ob sich die einzelnen Befragten nach mehr als 25 Jahren Wiedervereinigung als »Gewinner« oder »Verlierer« sehen, erhält – eingebettet in den Hintergrund der ostdeutschen Transformation – eine spannende Perspektive, deren Ergründung sehr empfehlenswert scheint. Diese Einblicke in das vielschichtige kommunikative Gedächtnis der Ostdeutschen wirken hoffentlich differenzierend auf das kulturelle Gedächtnis zurück. Die vorliegende Publikation wird der durch den Titel geweckten Erwartung dahingehend gerecht, daß der Leser einen breiten Querschnitt von Lebensgeschichten mit all ihren möglichen Brüchen, Reflexionen und sich verändernden Lebenskonzepten über die letzten drei Jahrzehnte vorfindet.

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