Rezension zu Verstehen und Begreifen in der Psychoanalyse (PDF-E-Book)
psychosozial 39. Jg. (2016), Heft I (Nr. 143)
Rezension von Julian Möhring
Die gegenwärtig aufkeimende Neugierde für Alfred Lorenzer
(1922–2002) und sein Werk vermag dieser Band eher zu fördern denn
zu stillen. Der ambitionierte Anspruch der hier versammelten
Beiträge scheint darin zu liegen, eine Zusammenschau von Werk und
Person in ihrer spezifischen historischen Situiertheit zu leisten –
und nicht etwa sich auf zentrale Begriffe, die methodische
Ausrichtung oder ein biografisches Bild zu beschränken. Nicht eine
Historisierung dieses Autors, sondern Möglichkeiten in der
Gegenwart an seine Arbeiten, Diskussionskultur und klinische Praxis
anzuknüpfen stehen im Vordergrund. Besondere Erwähnung verdient das
ausführliche, von Sebastian Hartmann und Siegfried Zepf geführte
Interview mit Alfred Lorenzer, das um einen sehr zentralen
Gegenstand seines Werkes, nämlich das Verstehen und seine
Möglichkeiten, kreist.
Die Klärung des sich in der psychoanalytischen Praxis vollziehenden
Verstehensprozesses bildet auch den Ausgangspunkt seiner wohl
bekanntesten Schrift »Sprachzerstörung und Rekonstruktion« (1970).
Die Entwicklung von Lorenzers Konzept des psychoanalytischen
Verstehens vollzieht sich dort in Auseinandersetzung mit
hypothesenprüfenden, erklärenden Verfahren, der hermeneutischen
Methode, dem freudschen Symbolbegriff, der Gefahr eines
unreflektierten Biologismus und den Neuerungen sprachtheoretischer
Arbeiten in der Philosophie und anderen Disziplinen sowie der
wissenschaftlichen Positionierung der Psychoanalyse und nicht
zuletzt der klinischen Situation selbst. Mit dem titelgebenden
»Verstehen und Begreifen« ist somit ein breiter Bogen gespannt, der
das Verstehen auf die unterschiedlichen Felder von Lorenzers
Arbeiten lenkt.
Seit dem Erscheinen seiner zentralen Schriften zu Beginn der 1970er
Jahre hat Alfred Lorenzer, folgt man den Beiträgen dieses Bandes,
wenig von seiner Aktualität verloren. Die Psychoanalyse wird als
kritische Sozialwissenschaft begriffen. Wiederkehrende Motive sind
die Kritik am Marxismus als Staatsreligion, der Versuch diese
orthodoxe Interpretation mittels einer materialistischen
Sozialisationstheorie zurechtzurücken und die Neuinterpretation der
Psychoanalyse als szenisches Verstehen. Auch wird an vielen Stellen
an die bereits bei Lorenzer selbst angelegte Abgrenzung von Jacques
Lacans Freud-Interpretation angeknüpft.
Für die Psychoanalyse fruchtet Lorenzers Ansatz nicht allein in
einem tragenden Konzept zur Klärung des Verhältnisses von
Individuum und Gesellschaft mittels der Grundkategorie der
Interaktionsform. In fachpolitischer Hinsicht findet man in dieser
Theorie einen inhaltlich gestützten Widerstand gegen die
Eingemeindung der Psychoanalyse in den Positivismus skalierbarer
Psychotechniken.
Gleich im Vorwort weist der praktizierende Psychoanalytiker,
Lacankenner und Mitherausgeber, Thierry Simonelli, auf den
Widerstand der Fachverlage hin, seine, im Jahr 2013 schließlich
erschienene, französische Übersetzung von »Sprachzerstörung und
Rekonstruktion« zu publizieren. Er verteidigt Lorenzers Ansatz
gegen drei Vorurteile: Dieser böte, verglichen mit Lacan oder Bion
nichts Neues, sei eine überholte Neuauflage des Freudomarxismus
sowie unvereinbar mit der strategisch defensiven Beschränkung der
Psychoanalyse auf den klinischen Bereich.
Insbesondere die im letzten Einwand anklingende Perspektive der
Fehlanpassung schneide die Weiterentwicklung psychoanalytischer
Theorie von der klinischen Praxis ab und befeuere so ein
Wissenschaftsverständnis, gegen das sich Lorenzer in seinen
Schriften massiv zur Wehr setzte. Schon die titelgebende Abfolge
von nacherlebendem Verstehen und hieran anschließendem
strukturellen Begreifen verweist auf dieses Verständnis der
Psychoanalyse.
In seinen Erinnerungen beschreibt Siegfried Zepf, Mitherausgeber
und ehemaliger Direktor eines saarländischen Instituts für
Psychoanalyse, neben anderem vor allem den Wissenschaftler Alfred
Lorenzer. Geleitet von einem psychosomatischen Interesse, habe Zepf
kurz nach dem Erscheinen von »Sprachzerstörung und Rekonstruktion«
ein Treffen mit ihm arrangiert, das nicht das letzte bleiben
sollte. Immer wieder diskutierten sie die Grundannahmen seiner
Theorie. Im inhaltlichen Austausch war Lorenzer ihm gegenüber
»selbstkritisch und darauf bedacht, Neues zu erfahren«. Im
Frankfurter Kreis, dessen Zentrum er gebildet habe, habe er
andererseits darauf geachtet, seine Position durchzuhalten und
Abweichungen zu vermeiden.
An diese Erinnerungen anschließend, blickt Hans-Volker Werthmann,
emeritierter Professor an der Goethe-Universität Frankfurt, auf
seine Lehranalyse bei Alfred Lorenzer zurück. Dieser war Ende der
1960er Jahre gerade neu in diese Funktion berufen worden. In der
Analyse habe er eine begleitende, abwartende Haltung eingenommen.
Nachdem er anfänglich einige hilfreiche Hinweise gegeben hätte,
redete und deutete er nicht viel. Werthmann beschreibt ihn als
unterstützenden Therapeuten, bei dem man als Analysand
selbstständig arbeitete. Das Material der Analyse führt nach
Ostpreußen und zentriert sich um eine doppelte Vaterfigur, die sich
neben dem leiblichen Vater auch auf den Onkel Werthmanns bezieht,
und die Schwierigkeit eines Identifikationsprozesses im Zuge ihrer
Rollenwechsel während des zweiten Weltkriegs und in der
Nachkriegszeit.
Der Bonner Professor Helmut Dahmer führt in der wiederabgedruckten
Laudatio zu Lorenzers 65. Geburtstag vor, wie in den Wirren des 20.
Jahrhunderts die vormals Blockaden überwindenden Ansätze von Marx
wie Freud im Zuge ihrer Institutionalisierung selbst in eine
Sackgasse geführt wurden, nämlich die der Staatsreligion respektive
einer unpolitischen Psychotechnik. Erst die 1968er-Bewegung habe
diese Verkrustungen durchbrechen können und Lorenzers Arbeit bilde
einen sublimierten Ausdruck dieser Bewegung, indem er sich die
freudschen Begriffe kritisch angeeignet und sie weitergeführt habe.
Diese Nähe zur Gegenöffentlichkeit habe in der professionellen
Psychotherapieausbildung am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt keinen
fruchtbaren Resonanzboden gefunden, sondern bildete selbst einen
Kontrapunkt zur institutionellen Hauptströmung dieser Tage, die
Lorenzers weitreichende Konzepte geflissentlich ignoriert habe.
Im Interview von Sebastian Hartmann und Siegfried Zepf mit Alfred
Lorenzer steht das Verhältnis von Begreifen und Verstehen im
Mittelpunkt. Letzteres wird vom Psychoanalytiker geleistet, indem
dieser sich anhand des mitgeteilten Textes eine Szene vorstelle,
ein »Abbild von dramatischen Vorgängen« bilde. Von dieser
alltagssprachlichen Basis habe das Begreifen auszugehen. Die in
diesem Vorgehen enthaltene Vorsicht vor theoretischen Anleihen
führt Lorenzer zur Betonung von Gesichtspunkten, die verschiedene
Perspektiven eröffnen, aber dem Material kein abgeschlossenes
begriffliches System überstülpen. Somit aktualisiert sich auch in
diesem Interview die Abgrenzung Lorenzers von einem erklärenden und
die Hinwendung zu einem verstehenden Ansatz psychoanalytischer
Praxis. Im Gesprächsverlauf wird deutlich, wie Lorenzer anhand
einer kritischen Auseinandersetzung mit den fundierten Kommentaren
zu seinem Werk seine eigenen Konzeptionen hinterfragt und
weiterführt. So weitet er an einer Stelle der Diskussion den
Bezugsrahmen symbolischer Interaktionsformen auf Prozesse der
innerpsychischen Beziehung des Subjekts zu seinen mentalen
Repräsentanzen aus, einem Gebiet, das in Lorenzers Theorie zuvor
Prozessen der Symbolisierung zukam. Auf den nächsten Beitrag
verweist die Aussage Lorenzers, dass das Individuum nicht nur in
eine hochkkomplizierte Sprache, sondern in eine ebenso komplexe
Praxisfiguration hineingeboren werde.
Den Theorievergleich zwischen Jacques Lacan und Alfred Lorenzer
bestreitet Thierry Simonelli entlang einer Rekonstruktion der
Interpretationen der bekannten Kurzgeschichte Edgar Allan Poes »Der
entwendete Brief« durch beide Theoretiker. Lacan erkenne in dieser
Geschichte den zwar fiktiven, jedoch durchschlagenden Beweis für
seine Theorie der Signifikantenketten und wolle so aufzeigen, wie
das Bewusstsein vom Unbewussten und seinen Vorgaben her zu denken
ist, ja das Unbewusste als das Ganze des Individuums gesehen werden
müsse. Nur durch das korrekte Erfassen der Bewegung innerhalb der
Signifikantenkette und in ihrem Nachvollzug sei der Detektiv Dupin
auf die richtige Fährte gelangt, was im Umkehrschluss bedeute, dass
das Subjekt dieser Bewegung unterworfen bleibe. Für Lorenzer
besteht Unbewusstes aus Klischees, die durch eine Exkommunikation
aus der Sprachgemeinschaft eine unverständliche Privatsprache
bilden und dynamisch wirksam sind. Sie können jedoch mittels
Resymbolisierung in der analytischen Praxis wieder zugänglich
gemacht werden, da die Verknüpfung mit einsozialisierten
Interaktionsformen weiterhin bestehe und der Wiederholungszwang den
Grund für die Klischeebildung verstehbar mache. Gesellschaft und
Individuum seien in unbewussten Interaktionsformen verschränkt und
nicht wie bei Lacan voneinander geschieden. Die Geschichte des
entwendeten Briefes werde für Lorenzer dort interessant, wo sich
ein Vergleich von Psychoanalytiker und Detektiv anbietet. Darunter
fällt das abduktive Schließen als Konstruktion einer möglichen
Regel und das anschließende Nachprüfen dieser Schlüsse, sowie das
Nacherleben der Szene. Lorenzers Dupin gelangt somit auf andere
Weise zu seinen Schlüssen als Lacans Detektiv.
Simonelli schließt an Alfred Lorenzers Kritik an Lacan weitgehend
an. Letzterer habe zwar die Bedeutung der Linguistik für die
Psychoanalyse verstanden und aus einem anderen theoretischen
Hintergrund heraus umgesetzt, jedoch bleibe er bei der sprachlichen
Strukturierung des Subjekts stehen und dringe nicht zur
gesellschaftlichen Determination durch Produktionsverhältnisse vor.
Lacan stülpe der Psychoanalyse sprachtheoretische Vorgaben aus der
modernen Linguistik über, während sich Lorenzer am »sinnlich
konkreten Individuum« orientiere, das bei Lacan fehle. Der Kritiker
schießt zuweilen über sein Ziel hinaus: So spart er die Bezüge von
Jakobson oder Levi-Strauss auf Freud aus, die die These des
Überstülpens einer reinen Linguistik bei Lacan infrage stellen. Die
Kritik der Verdinglichung, beileibe kein unproblematischer Begriff,
verfängt nur, wenn eine Engführung Lacans auf die symbolische
Ordnung und deren Stützung gerechtfertigt ist. Die Adaptionen von
Hegels Begierde und der Herr-Knecht-Dialektik in ihrer Verbindung
mit Lacans Lektüre Freuds führen aber in eine andere Richtung.
Ein Verdienst Lorenzers sei es, die gesellschaftlichen Einflüsse
auf das Ich und das Es sichtbar gemacht zu haben, während Freud,
und Lacan ist ihm darin gefolgt, die soziale Struktur eher im
Über-Ich verortete, so Gunzelin Schmid Noerr, Professor für
Sozialphilosophie, Ästhetik und Anthropologie an der Hochschule
Niederrhein. Er diskutiert Lorenzers Symboltheorie und dessen
Reformulierung einer Psychoanalyse, die nicht bei der klinischen
Praxis stehen bleibt, sondern auch auf kulturelle Gegenstände
anwendbar ist. Die klassische Symboltheorie Freuds wie auch die
daran anschließende einflussreiche Position Ernest Jones’ erkennen
in der Symbolbildung vor allem Verdrängungs-Vorgänge. Hinter diesen
verbergen sich elementare physiologische Erfahrungen wie Geburt
oder Tod. Dieser These vom Symbol als Ausdrucksgestalt einer
Regression widerspricht Lorenzer vor dem Hintergrund moderner
Symboltheorien. Die Rückführung der Zeichentheorie in die
Psychoanalyse führe zum Symbol als Ergebnis eines
Erkenntnisvorgangs, der unbewusste Inhalte verfügbar mache.
Schlussendlich führe er zur lorenzerschen Interpretation des
Triebbegriffs als physiologisch wie sozial bestimmte
Interaktionsform. Die Identifikation von Einzelelementen einer
Szene führt dann zur Verbindung von senso-motorischen und
Lautkomplexen als symbolische Interaktionsform. Ergänzt werden
diese Theoreme um ein weiteres, das kindliche Spiel und
künstlerischen Ausdruck umfassendes, präsentatives Symbol als
sinnlich-symbolische Interaktionsform. Über Lorenzers Annahme einer
genetischen Vorgängigkeit sinnlich-symbolischer vor symbolischer
Interaktionsform geht die seit Piaget zu einiger Bekanntheit
gelangte These von der Gleichzeitigkeit des Erlernens bildhafter
wie sprachlicher Symbolisierung hinaus. Daraus lässt sich die von
Martin Domes vertretene Parallelitätshypothese von Primär- und
Sekundärorganisation ableiten sowie, dass Sprache immer von
figürlichen Anteilen wie auch Präsentativem oder Unmittelbarem
durchsetzt sei. Der Unterschied zwischen der sprachlichen
Abstraktion und dem bildhaften Erkenntnisvorgang wäre somit nur ein
gradueller und kein kategorischer. Die idealistischen Anteile von
Lorenzers Ansatz lassen sich gerade unter Rückgriff auf Lacans
Begriff des Begehrens an den Grenzen der symbolischen Ordnung
sichtbar machen, weshalb auch die Symbolisierungspraxis immer nur
partiell gelingen kann.
Siegfried Zepf knüpft mit seinem Vergleich von Sprache, Bewusstsein
und Unbewusstem in der Gegenüberstellung von Freud und Lorenzer an
die Diskussion des Begreifens aus dem Interview an. Letzterer
problematisiert Freuds Konzept der Sachvorstellungen, diese setzten
bereits die Distinktion von Objekten auf einer Stufe der
Entwicklung voraus, in der eine solche Differenzierung noch gar
nicht möglich wäre. Das an Interaktionsformen ansetzende szenische
Verstehen geht dementgegen vom »Abbild dessen, was geschieht«, aus,
einer Situation, in der die Objekte noch untrennbar aufeinander
bezogen sind. Erst mit der Symbolisierung als Zusammenhang von
Interaktionsform und Sprache wird die Bildung von Sachvorstellungen
möglich. Dieses Modell ersetze auch die biologistisch-energetischen
Annahmen Freuds durch den Niederschlag real erfahrener Interaktion.
Die gesellschaftliche Herstellung des Unbewussten fange mit der
unvollständigen Aufnahme von Botschaften der Eltern im Kindesalter
an und wende sich gegen Freuds gattungsspezifische Hereditätslehre.
Kern der Kritik Zepfs an der lorenzerschen Sprachtheorie bildet
dessen ungenügende Behandlung der begrifflichen Ebene. Bewusstsein
lasse sich vermittels Sprache nur bilden, indem über die Zuordnung
eines Gegenstandes zu einem Zeichen hinaus der begriffliche
Referenzpunkt, die Verbindung von Objekt und Begriff, als
strukturelle Ebene der Abstraktion mitgedacht wird. Wau-Wau
verweist als Zeichen nicht allein auf das Bellen, sondern
impliziert Begriffe wie Hund, Stimme, Lärm. Ausgehend davon lässt
sich für die Begriffe festhalten, dass ihre Veränderung
Ausgangspunkt der Bedeutungsverfälschung sprachlicher Zeichen sei
und nicht umgekehrt, wie Lorenzer argumentiert. Nach Zepf werden
also Inhalte dadurch verdrängt, dass sie von einem
sprachgemeinschaftlichen Begriff in einen anderen so unpassend
transferiert werden, dass in diesem nurmehr privatsprachliche
Anteile hinzukommen.
Um die »Komplexität der Szene« und die bedeutsame Rolle von
Präsenzereignissen dreht sich der Beitrag des Psychoanalytikers
Bernd Nissen. In der Szene kommt eine durchschlagende
Prä-Konzeption zum Ausdruck, die im Moment ihres Auftritts
paradoxerweise »da ist, um etwas zu werden«. Die Prä-Konzeption ist
der Objekt-Beziehungstheorie entlehnt und beschreibt die ordnende
Funktion der Urfantasie, also der erlebten Erregungszustände, die
erst im Nachhinein durch Symbolisierung qualifiziert und benannt
und anschließend in eine Konstellation überführt werden, die der
aktuellen Präsenz gerecht wird. Darunter versteht Nissen mit Bion
die Transformation vom Erkanntsein ins Bekanntsein. In der
Betrachtung von Auszügen aus klinischem Material wird deutlich, wie
»Urphantasien als szenische Erwartung zukünftiger objektaler
Begegnungen« zu verstehen sind. Mit Blick auf die
psychoanalytischen Techniken der gleichschwebenden Aufmerksamkeit
und der freien Assoziation lasse sich der Zweck dieser Techniken
als Hervorbringung von Präsenz durch die Kommunikation des eigenen
mit dem fremden Unbewussten angeben. Die Urfantasie bezieht er so
auf die »Psychoanalytische Reverie«, die nicht allein die Grenze
zwischen vorbewusst und bewusst aufweiche, sondern auch die primäre
Zensur zwischen bewusst und unbewusst abbaue. Er veranschaulicht
dies an einem Therapieausschnitt, in dem der Patient nicht eine
unschöne Situation nacherzählt, sondern sie in vivo als Szene
reinsziniert, in der auch der Analytiker als Vater seinen Platz
erhält und mit mannigfaltigen aggressiven Gefühlszuständen
konfrontiert wird. Dieses Beispiel dient der Veranschaulichung,
dass ein Container-contained-Verhältnis in der Analytischen
Situation seinen Gehalt erst erschafft, der durch diesen Rahmen
ermöglicht wird.
Auf Lorenzers Potenzial für die klinische Anwendung und darüber
hinaus verweist Hans-Dieter Königs Beitrag, Professor,
Psychoanalytiker und Dozent für Soziologie und Sozialpsychologie an
der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er wendet sich gegen die
gebräuchliche Vignettenform der Darstellung eines
psychoanalytischen Prozesses. Zunächst nähert er sich mit Lorenzer
dem Verlauf einer Langzeittherapie in alltagssprachlicher Form.
Erst in einem zweiten Schritt wird dieses szenisch verstandene
Material auf die Ebene psychoanalytischer Begriffe gehoben und
diskutiert. Schließlich kommt anhand der im Material
transportierten Inhalte internetvermittelter Pornografie und des
Rotlichtviertels eine tiefenhermeneutische Ausdehnung der
analytischen Praxis auf kulturelle Gegenstände zum Zuge. Unter
Rückgriff auf die in der »Dialektik der Aufklärung« formulierte
Theorie einer Kulturindustrie gelingt König eine Kritik am
internetvermittelten Konsumismus. Deutlich wird dabei, dass der
Therapieverlauf alleine die gesellschaftstheoretische
Interpretation nicht schon vorgeben kann. Stattdessen steht
individuelles Erleben, vermittelt durch die Interaktionsform, mit
einer spezifischen gesellschaftlichen Formation in Beziehung, ohne
ein kausales Verhältnis zu bilden.
Im wiederabgedruckten Nachruf auf Alfred Lorenzer von Helmut Dahmer
kommen nochmals die in diesem Sammelband akzentuierten Inhalte zum
Ausdruck. Eine kritische Anknüpfung an Freud und Marx und deren
Weiterführung im Kontext aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse,
die Schwierigkeiten einer randständigen Position innerhalb der
Psychoanalyse und der Gruppe um Lorenzer, die mit ihm für ein
Verständnis der Psychoanalyse einsteht, das ihre gesellschaftliche
Position reflektiert.
Aufgrund der prismatisch anmutenden Konzeption der »Erkundungen«
bleiben innere Widersprüche nicht aus, auch wiederholen sich in den
einzelnen Artikeln die Grundlagen der lorenzerschen Theorie zu
häufig. Hier wäre zur Klärung eine Bezugnahme der Beiträge
aufeinander innerhalb des Bandes hilfreich gewesen. Alles in allem
erwartet den Leser ohne größeres Vorwissen um die Person Alfred
Lorenzer eine Einladung, die Vielfalt und Aktualität seiner Arbeit
zu erkunden. Der bereits kundige Leser trifft auf biografische
Hintergrundinformationen und aktuelle Diskussionen klassischer
Thesen dieses Autors.