Rezension zu Letter from the Editor (PDF-E-Book)

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Rezension von Hans-Peter Heekerens

Einführung

Das mit Jahresbeginn 1999 in Kraft getretene Psychotherapeutengesetz hat in Deutschland zu einer Verarmung der psychotherapeutischen und psychosozialen Hilfsangebote ohnegleichen geführt. Viele psychotherapeutische Ansätze, die auch in das psychosoziale Handeln der Sozialen Arbeit einflossen, sind hierzulande – im Gegensatz etwa zu Österreich mit seinem ganz anders gearteten Psychotherapeutengesetz – weitgehend verschwunden. Wie sehr das Psychotherapeutengesetz als Selektionskontext fungiert, mag Folgendes illustrieren. Auf der Homepage von Vita Heinrich-Clauer, als Herausgeberin des »Handbuch Bioenergetische Analyse« (Gießen: Psychosozial-Verlag, 2008) eine der bekanntesten Bioenergetiker(innen) Deutschlands finden sich folgende Angaben: »Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (alle Kassen), Bioenergetische Analyse, Paartherapie und TP am Pferd (Selbstzahler)« (http://www.vita-heinrich-clauer.de/).

Zu den im Schwinden begriffenen und vom Verschwinden bedrohten Formen psychotherapeutischer Handlungsmöglichkeiten gehören insbesondere die vielen und vielfältigen psychotherapeutischen Ansätze, die sich seit den 1920ern aus der Psychoanalyse und anderen psychodynamischen Ansätzen heraus, mitunter in mehr oder minder scharfer Abgrenzung zu diesen entwickelt haben, unter Überschriften wie »Dritte Kraft«, »humanistisch«, »affektiv-experienziell« oder »humanistisch-experienziell« (humanistic-experiential; der Ausdruck setzt sich international durch) eingeordnet wurden und bis Ende des letzten Jahrhunderts auch in Deutschland zur reichen Vielfalt psychotherapeutischer und psychosozialer Handlungsmöglichkeiten beitrugen.

Einer dieser Ansätze ist die Bioenergetik (gebräuchliche Kurzbezeichnung für »Bioenergetische Analyse«), ein körperpsychotherapeutisches Verfahren, als dessen Begründer gemeinhin die US-amerikanischen Ärzte Alexander Lowen (urspr. Löwenstein) und John Pierrakos, die 1956 das International Institute for Bioenergetic Analysis (IIBA) gründeten, gelten. Sie waren beide Schüler des von den Nazis verfolgten und von der Psychoanalyse verfemten Wilhelm Reich (neuste Darstellung: Peglau, 2015 ), der 1939 in die USA gekommen war und den sie Anfang der 1940er kennen gelernt hatten. Die Bioenergetik ist einer jener zahlreichen therapeutischen Ansätze, die vor dem 2. Weltkrieg in Europa (v. a. dem deutschsprachigen Teil) entwickelt, aus ganz unterschiedlichen Gründen in die USA exportiert und von dort nach dem 2. Weltkrieg in mehr oder minder veränderter Gestalt, mit weniger oder mehr anderem Inhalt und in der Regel mit neuem Namen versehen von Europa (re-)importiert wurden – oft ohne deren ursprüngliche Herkunft zu kennen.

Im Falle der Bioenergetik lässt sich in aller Kürze, die natürlich die Gefahr des Missverstehens mit sich bringt, Folgendes sagen. Sie ist eine Körperpsychotherapie, abgeleitet aus der von Wilhelm Reich bis in die 1930er Jahre entwickelten Methode. Gegenüber der ursprünglichen Reichschen Zielsetzung der (Wieder-)Gewinnung der »orgastischen Potenz« wird die Zielsetzung erweitert: Lösung von den Selbstausdruck behindernden Blockaden. Aber damit ist die Bioenergetik eine weitaus treuere Bewahrerin des Erbes, das der »europäische« Wilhelm Reich hinterlassen hat, als der Wilhelm Reich seiner späten Lebensjahre selbst. Sein Ansatz wandelte sich in dem Maße von einer Körperpsychotherapie zu einer Körpertherapie, indem er sich selbst mit seiner ab den 1940er Jahren entwickelten kosmologischen Theorie der Orgonomie verlor. »Sich selbst verlor« ist natürlich eine Bewertung, eine eurozentrische und durch die Zugehörigkeit zur 68er-Bewegung geprägte, die man bestreiten kann, die aber in Deutschland von vielen geteilt wird (vgl. Peglau, 2015).

Die Bioenergetik im besonderen, die Körperpsychotherapie im allgemeinen und die Bedeutung von Körperlichkeit (oder besser: Leiblichkeit) für psychosoziale Gesundheit und Gesundung ist in Deutschland – »natürlich« möchte man sagen – nicht gänzlich verschwunden. So fanden etwa in dem Monat, da diese Rezension geschrieben wurde, gleich zwei überregionale Veranstaltungen dazu statt: vom 8. bis 10. Mai 2015 in Oldenburg die 10. Fachtagung für Primäre Prävention und Körperpsychotherapie und am 9. Mai 2015 in Heidelberg ein Symposium unter dem Titel »Körper und Gefühl: Kreative Ansätze der Psychotherapie«. Und es gibt hierzulande weiterhin Institutionen, die nicht nur Aus- und Fortbildung in Bioenergetik anbieten, sondern auch den Informationsaustausch unter Kolleg(inn)en und das Gespräch mit Vertreter(inne)n anderer Psychotherapieschulen und Fachverbänden fördern; zu nennen sind hier das Norddeutsche Institut für Bioenergetische Analyse, die Süddeutsche Gesellschaft für Bioenergetische Analyse sowie die Deutsche Gesellschaft für Körperpsychotherapie.

»Bioenergetic Analysis« ist das Clinical Journal der IIBA und wird von diesem heraus gegeben – was nicht ausschließt, dass zusätzlich Personen als Herausgeber(innen) genannt werden, die zuvor als Reviewer(innen) für die jeweilige Ausgabe fungiert haben (können). Es erscheint seit 1985 und ist damit die älteste Zeitschrift für Bioenergetik – und darf als die international bedeutsamste gelten. Seit einigen Jahren (wohl seit 2008) erscheint die jährlich publizierte Zeitschrift in der Reihe »edition psychosozial« des Psychosozial-Verlags, der damit – er gibt seit 2014 auch das jährlich erscheinende »Forum Bioenergetische Analyse« heraus – nicht nur einen bedeutsamen Beitrag zur Fortentwicklung der Bioenergetik in Deutschland, sondern auch zur Erhaltung einer – nach meinem Dafürhalten überlebensnotwendigen – Diversität psychotherapeutischer und psychosozialer Hilfsmöglichkeiten leistet. Der vorliegende Jahresband der Zeitschrift ist der 25. und blickt auf eine dreißigjährige Erscheinungsgeschichte zurück; das sind Jubiläumsdaten, die Anlass geben, die Zeitschrift exemplarisch in Augenschein zu nehmen.

Aufbau und Inhalt

Im Buch folgt einem kurzen Letter from the Editor, der neben einer extrem kurzen Darstellung der fünf thematischen Artikel lediglich »Vereinsnachrichten« aufweist, einen – nur für Insider interessanten – Rückblick (Inside the Backroom) der fünf Chefherausgeber(innen) auf die letzten 30 Jahre und 25 Ausgaben. Danach finden sich fünf thematische Artikel aus der Feder von fünf Autor(inn)en aus Deutschland, Italien und den USA, von denen gleich drei Deutsche sind – den in schönster Umgebung von Florenz (offensichtlich freiwillig und damit nicht im »Exil«) lebenden Christoph Helferich zähle ich dazu. Die in Englisch abgefassten Artikel beginnen jeweils mit Zusammenfassungen in englischer, deutscher, französischer, spanischer und italienischer Sprache, haben je eine gesonderte Bibliographie sowie abschließend (mehr oder minder informative) Angaben zur Autorin / zum Autor.

Der erste Beitrag »Body and Body Psychotherapy in the Global Village« stammt von Christoph Helferich, den in Deutschland und dem deutschsprachigen Raum mehr Menschen als Philosophiehistoriker (Geschichte der Philosophie. Stuttgart – Weimar: Metzler, 4. Aufl. 2012) denn als bioenergetischen Therapeuten kennen dürften. Es ist eben jene personal vermittelte Beziehung zwischen Psychotherapie und Philosophie, die das Thema des Artikels und dessen Bearbeitung verständlich macht. Durften die Gründungsfiguren der Körperpsychotherapie traditionelle Begriffe und Konzepte wie »Natur«, »Körper« und »Leib« noch unbefragt aufgreifen und für ihre Theoriebildung nutzen, so wäre eine naive Fortschreibung durch die zeitgenössische Körper(psycho)therapie ein wahrlich fundamentaler Fehler; moderne Technologie und heutige virtuelle Kommunikation lassen das Fundamentum von Gestern zerbröseln und als ein nur noch vermeintliches erscheinen.

Psychotherapie, Klinische Sozialarbeit, Psychosoziale Beratung und vergleichbare personen- wie persönlichkeitsnahe Dienstleistungen (ja, wir reden hier von »Helfen als Beruf«) bergen Gefahren, denen sich zu Risiken bereite professionelle Helfer(innen) bewusst sein müssen, wollen sie nicht Gefahr laufen, ihren Klient(inn)en oder Patient(inn)en mehr zu schaden als zu nutzen und / oder selbst zu Klient(inn)en oder Patient(inn)en zu werden. Die Möglichkeiten primärer, sekundärer und tertiärer Prävention möglichen beruflichen Burnouts sind vielfältig und variieren von Profession zu Profession sowie von einer »schulischen« Orientierung zur anderen. In »Bioenergetic Self-Care for Therapists. Between Openess and Boundary Settings« behandelt Vita Heinrich-Clauer das angesprochene Thema in seiner bioenergetischen Variation. Die seit 1989 in eigener Praxis in Osnabrück tätige Psychotherapeutin (jetzt: Psychologische Psychotherapeutin) blickt auf über ein viertel Jahrhundert tiefenpsychologisch fundierte und bioenergetisch qualifizierte Arbeit sowie eine langjährige Ausbildungs- und Supervisionserfahrung zurück. Das merkt man ihrem Artikel an: Er wirkt ebenso theoretisch reflektiert wie in der Praxis fundiert.

Die Kalifornierin Garet Bedrosian (HP: http://www.garetbedrosian.com/) liefert mit »The ›Energetics‹ of Couples Therapy« einen Beitrag, den man am besten als »behandlungstechnischen« bezeichnet. Die Autorin ist nicht nur in Bioenergetik zertifiziert, sondern auch in IMAGO Relationship Therapy (vgl. http://pro.imagorelationships.org/ABOUT/WhatisImagoTherapy.aspx). Diesen paartherapeutischen Ansatz aus der humanistisch-experienziellen Tradition und den der gleichen Tradition zuzuordnenden der Emotions-fokussierten Paartherapie (ausf. Heekerens, 2000; Heekerens & Ohling, 2004) verbindet die Autorin mit Elementen der Bioenergetik mit dem Ziel, in der Paartherapie / -beratung die »nonverbalen, energetische Störungen zwischen Paaren ansprechen« (S. 73) zu können.

Es gibt in Deutschland eine bedeutsame und mit dem Namen des nahe bei Heidelberg wohnenden Arztes Ludwig Janus (http://www.ludwig-janus.de/) verbundene Tradition der prä- und perinatalen Psychologie. Ob sich diese tatsächlich auf den Freud-Schüler und -Dissidenten Otto Rank, namentlich sein Werk »Das Trauma der Geburt« (Erstausgabe 1924) beziehen und berufen darf, ist fraglich (und wird auch von mir in Frage gestellt: Heekerens, 2014; Heekerens & Ohling, 2005). Aber das heißt ja nun nicht, die Bedeutung prä- und perinataler Erfahrungen für die weitere Entwicklungsgeschichte von Individuen, für deren eventuelle Therapie im allgemeinen und eine Körperpsychotherapie im besonderen von Vornherein und prinzipiell in Frage zu stellen. Die bei Heidelberg als Heilpraktikerin tätige und als lizensierte Bioenergetikerin praktizierende Wera Fauser, derzeit 1. Vorsitzende der Süddeutschen Gesellschaft für Bioenergetische Analyse (http://www.sgfba.com/) jedenfalls hält (aus mir gut verständlichen Gründen) im Artikel »The Importance of Integrating Pre- und Perinatal Issues into Bioenergetic Analysis« ein Plädoyer dafür, bei Psychotherapien im allgemeinen und Körperpsychotherapien, namentlich der Bioenergetik im besonderen, prä- und perinatale Erfahrungen diagnostisch und therapeutisch in Rechnung zu stellen.

Der letzte Beitrag »Feeling Ridiculous and the Emotion of Shame in Physical Experiences During Analysis« ist eine Falldarstellung des Römers Giuseppe Carzedda, graduierter und promovierter Psychologe, lizensierter Bioenergetiker seit 1986 und derzeit Direktor des Istituto Italiano di Formazione in Analisi Bioenergetica sowie »Chef«-Trainer und Supervisor für Italien im Auftrag des IIBA. Diese Falldarstellung ist strukturiert durch und geleitet von der »behandlungstechnischen« Frage des Umgangs mit Scham. Nach (gut nachvollziehbarer) Ansicht des Autors muss Scham »allgemein als ein integraler Teil des Prozesses der individuellen psychologischen Entwicklung gesehen werden« (S. 122) und wenn ein solcher Entwicklungsprozess im Rahmen einer therapeutischen Beziehung stattfindet, ist der kunstgerechte Umgang mit Scham unabdingbar. Scham ist ein Thema, mit dem es die Soziale Arbeit in der täglichen Praxis oft und fortwährend zu tun hat, in der Reflexionsarbeit der Sozialen Arbeit aber nahezu keine Rolle spielt. Anders in der psychoanalytischen Therapie und Sozialpädagogik. Ich verweise hier nur auf die Bücher von Günther Seidler »Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham« (Stuttgart: Klett-Cotta Verlag, 3. Auflage 2012; socialnet-Rezension: www.socialnet.de/rezensionen/13641.php) und Jens Tiedemanns »Scham« (Gießen: Psychosozial-Verlag, 2013).

Diskussion

Die Bioenergetik ist in Deutschland und auch in den anderen Ländern, in denen sie vertreten ist, nicht nur weitgehend abgeschnitten von den Finanzierungsmöglichkeiten durch das jeweilige Sozialsystem, es ist auch fast ohne Ressourcen im öffentlich finanzierten Wissenschaftsbetrieb. Man muss sich deshalb nicht wundern, weshalb keine(r) der Autor(inn)en der hier zu besprechenden Zeitschrift an einer Hochschule tätig ist. Umso mehr Grund gibt es, dem hohen Niveau aller Artikel, die samt und sonders »in der Freizeit« verfasst wurden, allen Respekt zu zollen. Gemessen an den üblichen Bewertungskriterien eines »Klinischen Journals« ist das hier vorliegende mit »gut« zu bewerten.

Fazit

Und wem ist es zur Lektüre zu empfehlen? All denjenigen, seien sie nun in Forschung und/oder Praxis tätig, die auf die humanistisch-experienzielle Grundorientierung psychotherapeutischer und psychosozialer Hilfsmöglichkeiten eingeschworen sind oder aber diese als wertvolle Ergänzung zu anderen (psychodynamischen, kognitiv-behavioralen sowie konstruktivistisch-systemischen) ansehen. Unter den so Angesprochenen könnten auch Vertreter(innen) der deutschen Klinischen Sozialarbeit sein. Sie könnten dafür sorgen, dass die Zeitschrift ihren festen Platz in der Fachbereichs- bzw. Fakultätsbibliothek bekommt; 20 Euro pro Jahr lassen sich immer locker machen.

Literaturnachweis
• Heekerens, H.-P. (2000). Die Emotions-Fokussierte Paartherapie: Ansatz, Ergebnis- und Prozeßevaluation. In P. Kaiser (Hrsg.), Partnerschaft und Paartherapie (S. 323-337). Göttingen: Hogrefe.
• Heekerens, H.-P. (2014). Rezension vom 10.09.2014 zu Lieberman, E. J. (2014). Otto Rank. Leben und Werk (2., unveränderte Aufl.). Gießen: Psychosozial-Verlag. (vgl. www.socialnet.de/rezensionen/16563.php).
• Heekerens, H.-P. & Ohling, M. (2004). Systemisch denken und experienziell handeln: die Emotions-Fokussierte Paartherapie. Person, 8(2), 156-163.
• Heekerens, H.-P. & Ohling, M. (2005). Am Anfang war Otto Rank: 80 Jahre Experienzielle Therapie. Integrative Therapie, 2005, 31, 276-293.
• Peglau, P. (2015). Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Gießen: Psychosozial-Verlag (vgl. www.socialnet.de/rezensionen/18421.php).

Rezensent
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München

Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 01.07.2015 zu: International Institute for Bioenergetic Analysis (Hrsg.): Bioenergetic Analysis. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2015. ISBN 978-3-8379-2481-7. The Clinical Journal of the International Institute for Bioenergetic Analysis (25/2015). In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/18676.php, Datum des Zugriffs 25.01.2017.

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