Rezension zu Vergangenheit, die nicht vergeht
PSYCHE, Juli 2006 60.Jg.
Rezension von Samuel Salzborn
Ingrid Peisker geht in ihrer ausgesprochen umfang- und
materialreichen psychoanalytischen Zeitdiagnose über die
Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus von der These aus,
daß in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft nicht eine
kritische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit im Mittelpunkt
gestanden habe, sondern deren nachträgliche Legitimierung. Anstelle
eines Abschiednehmens von den NS-Idealen und einer schmerzhaften
Trauerarbeit kam es zu Rechtfertigungen, Bagatellisierungen und
Umdeutungen der eigenen Vergangenheit. Peisker will mit ihrer
Arbeit den bisherigen Diskussionsprozeß auf zweierlei Weise
aufgreifen und weiterentwickeln: Einerseits sollen die
»historischen Fakten nach altbewährter psychoanalytischer
Tradition« klargestellt werden und andererseits soll die Erinnerung
in den Mittelpunkt gerückt werden, wobei Erinnerung im doppelten
Sinne einer Hervorholung des Verdrängten und Beschwiegenen und
einer Trauerarbeit als »schonungslose Konfrontation mit dem, was
betrauert werden soll«, verstanden wird (S. 13): »Statt sich hinter
der Abwehr zu verschanzen und immer weitere Beweise zu sammeln, um
sich vor den Zumutungen der Selbsthinterfragung zu schützen,
sollten die Deutschen die Herausforderung annehmen und die
Normalität der Verbrechen als Produkt einer spezifischen
politischen Kultur und Mentalitätstradition begreifen. Eine solche
Auseinandersetzung erweist sich als um so dringender, als die
aktuelle Situation in Deutschland mit ihren besonders intensiven
Selbstverständnisdebatten genügend Anlaß bietet, die eigene
›Normalität‹ anzuzweifeln.« (S. 452)
Peisker nähert sich ihrem zeitdiagnostischen Ziel in einer
historisch rekonstruierenden Weise, indem sie ausgehend von einer
Auseinandersetzung mit dem »Leben nach dem Ruin« und dem »Leben
nach dem Holocaust« – die differenten Ausgangsbedingungen von
nicht-jüdischen und von jüdischen Deutschen zwischen
Desillusionierungsschock und Schuldabwehr auf der einen und
Verfolgungstraumatisierungen und neuem Antisemitismus auf der
anderen Seite rekonstruiert. Der umfangreichste Teil der Arbeit
(rund 540 Seiten) nimmt dann Formen der Wiederkehr des Verdrängten
unter der jeweils zu diskutierenden Frage nach den Strategien von
Aufarbeitung und Nicht-Aufarbeitung in den Blick, wobei die
Darstellung von psychoanalytischen Überlegungen zu Antisemitismus
und Nationalismus über religionspsychologische Ausführungen zum
genetischen Verhältnis von Christentum und Judenfeindschaft bis zur
Rekonstruktionen einzelner erinnerungspolitischen Debatten (z. B.
der um Daniel J. Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker, der
um die Wehrmachtsausstellung und der um das Holocaust-Mahnmal oder
der infolge der »Friedenspreisrede« von Martin Walser) reicht.
Die Arbeit von Peisker läßt sich dabei aus zwei Perspektiven
würdigen: In der einen ist die enzyklopädische Fülle des
verwendeten und zusammengefaßten Materials, der referierten
Positionen und die Breite der deskriptiven Darstellung
hervorzuheben, die an vielen Stellen das Studium weiterer
Quellenwerke zum Thema erübrigt. In der anderen fällt es über weite
Strecken schwer, den theoretischen Faden zu finden, der dem
Referierten zugrunde liegt; die fleißig zusammengetragenen
Puzzlestücke werden nicht wirklich aneinandergelegt, es bleibt im
unklaren, ob die Autorin eines der psychoanalytischen oder
soziologischen Interpretationskonzepte, die sie darstellt, für
überzeugender hält als ein anderes und wenn ja, warum – oder eben
auch nicht.
Das damit angezeigte Fehlen eines gesellschaftstheoretischen
Rahmens führt dann -ungeachtet aller Sympathien für die
grundsätzliche Intention der Autorin und ihr uneingeschränkt
bewundernswertes akribisches Zusammenstellen des Quellenmaterials –
zu der Schwierigkeit, den analytischen-theoretischen Kern ihrer
»psychoanalytischen Zeitdiagnose« über die faktenmanifeste
Zusammenstellung hinaus deutlich werden zu lassen. Denn Peisker
läßt an vielen Stellen ihrer Arbeit zwar Zustimmung für
Interpretations- und Erklärungsansätze durchblicken, die von
Sigmund Freud, Ernst Simmel, Ma Grunberger, Alexander und Margarete
Mitscherlich bis hin zu Ralph Giordano, Daniel J. Goldhagen und
Harald Welzer gehen, ohne dabei allerdings den Versuch zu
unternehmen, wie – um von den widersprüchlichsten Positionen
auszugehen – beispielsweise Freud mit Welzer theoretisch in
Beziehung zu setzen sein könnte, wenn man die Werke beider Autoren
nicht gänzlich mißdeuten möchte, oder aber die Relevanz der
referierten Positionen hinsichtlich einer Gewichtung von
theoretischer Analyse (durch Aufgreifen einer oder mehreren
Theorien) und empirischem Material (durch Einordnung von
empirischen Studien in bezug auf diese Theorien) zu bestimmen. Um
beim Beispiel zu bleiben: Es hätte sich angeboten, die von Welzer
u. a. erhobenen empirischen Daten über die Tradierung von
Geschichtsbewußtsein und die damit auf der manifesten Ebene
ermittelte Umcodierung des Täter-Opfer-Verhältnisses in der
deutschen Erinnerungskultur einer systematischen psychoanalytischen
Sekundäranalyse zu unterziehen und somit das – (was Peisker auch
andeutet) eben nicht »für sich« sprechende – Material
gesellschaftstheoretisch, auch und gerade hinsichtlich seiner
latenten Dimensionen, interpretierbar zu machen.
Gerade weil Peisker, ihrem eigenen Anspruch folgend, die manifeste
Ebene bzw. die »historischen Fakten« über weite Strecken mit
lexikalischer Genauigkeit erfaßt hat, ist das Fehlen einer
gesellschaftstheoretischen Vermittlung des empirisch-historischen
Materials um so bedauerlicher auch, weil die in dem Band immer
wieder erfreulicherweise trotz allem durchschimmernden eigenen
Interpretationsansätze der Autorin (wie z. B. ihre ambitionierten
Überlegungen zum Kontext von deutschem Schuldgefühl und
christlichem Kreuzigungsvorwurf; S. 696) dabei in der Fülle des
zusammengetragenen Materials fast als beiläufige Randbemerkungen
untergehen.