Rezension zu Sucht
Zeitschrift für Transaktionsanalyse, Heft 1/2017
Rezension von Simone Stephan
Mit leichter Skepsis traf ich die Entscheidung, ein
psychoanalytisches Buch zum Thema Sucht zu besprechen. Oft tue ich
mich schwer mit dem psychoanalytischen Sprachgebrauch, und ich
teile nicht in allen Punkten die dieser Tradition entstammende
Sichtweise von Pathologien. Umso mehr freute ich mich an der
Entdeckung, wie viel bindungstheoretischen Hintergrund Roland
Voigtel – geschickt in psychoanalytische Terminologie übersetzt –
aufgreift, um die Entstehung schwerer Suchterkrankungen und deren
Hartnäckigkeit in der therapeutischen Behandlung zu erklären. In
den ersten Abschnitten des Buches erläutert der Autor alle
Bedingungsgefüge der Suchterkrankung anhand klassischer
psychoanalytischer Konzepte, doch geht er hierbei meines Erachtens
sehr viel weitgreifender auf die Funktionalität des süchtigen
Verhaltens im Sinne einer emotionalen Überlebensstrategie der
Betroffenen ein, als ich es bisher von Autoren dieser Schule
gewohnt war. Kurz und prägnant setzt sich Voigtel mit der Wirkweise
der verschiedenen Suchtmittel (einschließlich Glücksspiel)
auseinander und erläutert im weiteren Verlauf, wie die Substanz
aufgrund ihrer Verlässlichkeit zum Halt gebenden Ersatz für ein in
der frühen Kindheit nicht verfügbares oder verletzendes Gegenüber
wird, also als Gegenpol für das vernachlässigende, kränkende oder
schädigende primäre Objekt dient, und zwar aufgrund seiner hohen
affektregulierenden Wirkweise.
Weiterhin gefällt mir, wie Voigtel zwischen der symptomatischen und
der persönlichkeitsstrukturellen Sucht unterscheidet und darauf
aufbauend auch zu unterschiedlicher therapeutischer Vorgehensweise
rät. Sein für Psychoanalytiker eher ungewöhnliches
beziehungsorientiertes Vorgehen wie auch seine zutiefst
wertschätzende Grundhaltung seinen Klienten gegenüber kommen
deutlich zum Ausdruck. An vielen Stellen werden Fallbeispiele aus
seiner eigenen praktischen Tätigkeit dargestellt, die das zuvor
theoretisch Erörterte anschaulich und nachvollziehbar machen. In
mutiger Weise appelliert der Verfasser an sein therapeutisches
Kollegium, bei suchtkranken Klienten nicht auf absolute Abstinenz
als Bedingung für die Aufnahme einer psychotherapeutischen
Behandlung zu beharren, und verteidigt dies mit dem Vergleich, dies
wäre genauso problematisch, »als verlange man vom Zwangskranken, er
solle seine Zwangshandlungen erst einmal loswerden, bevor man ihn
behandeln könne«.
Das Buch ist inhaltlich gut strukturiert, sehr klar und logisch
aufgebaut, entbehrt der sonst in Fachbüchern häufigen und meiner
Auffassung nach den Lesefluss erheblich beeinträchtigenden Fußnoten
und gibt wertvolle therapeutische Anregungen. Alles in allem ein
Gewinn.