Rezension zu Das Unbewusste, Band 1-3
Psyche, Januar 2006 60.Jg.
Rezension von Esther Grundmann
Schon der Titel des ersten Bandes von drei geplanten verweist auf
ein vielversprechendes, ein anspruchsvolles Unternehmen und
erinnert an Ellenbergers monumentales Buch Die Entdeckung des
Unbewußten, das durch die Fülle an Informationen, durch Klarheit
und Genauigkeit in der Darstellung besticht und als besonders
geglückter Versuch einer interdisziplinären Darstellung gelten
darf. Daran scheinen sich die Herausgeber des vorliegenden Buches
anzulehnen; so wird – implizit und explizit – Bezug auf
Ellenbergers Werk genommen. Und schon das Vorhaben, an Ellenbergers
Untersuchung anzuknüpfen und sie bis in die Gegenwart zu erweitern,
ist zu begrüßen.
Das Buch gliedert sich in fünf Hauptkapitel; in jedes Hauptkapitel
führen die Herausgeber mit einem Überblick und einer kurzen
Zusammenfassung ein.
Die ersten beiden Hauptkapitel behandeln den
philosophiegeschichtlichen Hintergrund des ›Unbewussten‹ in
insgesamt sieben Aufsätzen. Die Beiträge diskutieren den Einfluß
von Descartes, Leibniz, Kant, Schopenhauer und Nietzsche auf die
Begriffsbildung des Unbewußten; einzelne Aufsätze sind
systematischer Natur und setzen sich mit philosophischen Kategorien
(»Lebenskraft«, »absoluter Geist«) sowie ideengeschichtlichen
Strömungen (Romantik) auseinander.
Der Aufsatz von Johannes Oberthür, philosophisch sehr fundiert,
stellt die Verbindung her zwischen zwei so unterschiedlichen
Denkern wie Descartes und Leibniz. Descartes, der als strenger
Rationalist die Selbstbewußtheit des Menschen zum Maßstab erhebt,
wird von Leibniz grundlegend revidiert, indem dieser den
Zusammenhang zwischen Bewußtem und Unbewußtem betont. Beide
Positionen sind repräsentativ für die weitere philosophische
Auseinandersetzung mit dem Unbewußten.
Ein interessantes, aber auch gewagtes Unternehmen ist der Versuch
von Birgit Althans und Jörg Zirfas, das Unbewußte zum Gegenstand
der Kantischen Philosophie zu erklären. »Der Versuch, in Kants
Philosophie das Unbewusste zu entdecken, ist ein undankbares
Unterfangen« (S. 70), stellen die AutorInnen einleitend fest. Doch
obwohl dieser Aufsatz so vorsichtig beginnt, kommen sie zu
erstaunlichen Ergebnissen: »Mit der Fokussierung auf das Unbewusste
findet ebenso eine radikale Verkürzung wie radikale Erweiterung der
Kantischen Philosophie statt« (S. 73). Auch wenn der Beitrag
durchaus Wissenswertes über die Kantische Philosophie enthält,
gerät er stellenweise eher zu einer Hommage an Freud; Kant
erscheint als dessen Wegbereiter (vgl. S. 82).
Das dritte Hauptkapitel: »Die ›Umbuchung‹ des Unbewussten in die
Medizin, Psychologie und Psychotherapie« beschäftigt sich mit dem
medizingeschichtlichen und naturwissenschaftlichen Verständnis des
Unbewußten. Magnetismus und Hypnotismus werden in einem Beitrag von
Johann Georg Reicheneder als Vorläufer der Psychoanalyse gewürdigt.
In Anlehnung an Ellenberger verweist Reicheneder auf den
interessanten Aspekt des Arzt-Patienten-Verhältnisses, dem bereits
im Magnetismus eine besondere Bedeutung zukommt: der sog. »Rapport«
weist Ähnlichkeiten auf zum Gedanken der »Übertragung«.
Die Psychiatrie und Psychologie des 19. Jahrhunderts ist bestrebt –
in Abgrenzung zur metaphysischen Philosophie – den Begriff des
Unbewußten auf eine empirische Basis zu stellen. Der Beitrag von
Mai Wegener über die Bedeutung Fechners für die zeitgenössische
Psychologie (Helmholtz, Wundt) verdient besondere Beachtung.
Fechner ist eine sehr interessante Figur für die
Wissenschaftsgeschichte, schwer einer Richtung zuzuordnen.
Einerseits ist sein Denken von naturwissenschaftlichen und
experimentellen Verfahren geprägt, andererseits finden wir in
seinen Arbeiten auch Elemente der romantischen Naturphilosophie.
Das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Ansätze im Werk Fechners
wird von Wegener eindrücklich nachgezeichnet, unter
Berücksichtigung der neuesten Forschungsliteratur.
In der Annahme eines schwellenbezogenen Unterbewußten lassen sich
Verbindungen herstellen zwischen Leibniz, Fechner und Pierre Janet,
dem bekannten Vertreter der dynamischen Psychiatrie.
Karl-Ernst Bühler und Gerhard Heim zeigen in ihrem Aufsatz über
Janet die Bedingungen auf, die dazu führten, daß Janet in der
deutschsprachigen Literatur über Jahrzehnte kaum zur Kenntnis
genommen wurde. Viele Überlegungen Janets sind aber auch heute noch
aktuell und weisen eine Nähe auf zur kognitiven Psychologie. In
Deutschland spielt die Janet-Forschung erst in jüngster Zeit eine
Rolle.
Die beiden letzten Hauptkapitel behandeln die Bedeutung des
Unbewußten in der Psychoanalyse. Mit 13 Aufsätzen stellen sie gut
die Hälfte des Buches dar. Das Kapitel »Das Unbewusste als
Zentralbegriff in der Pionierzeit der Psychoanalyse« gibt Einblick
in die Theoriebildung S. Freuds, A. Adlers, C.G. Jungs, S.
Ferenczis und 0. Ranks.
Das Kapitel »Einheit und Gegensätze des Unbewussten in der
gegenwärtigen Psychoanalyse« enthält Aufsätze zu J. Lacan, H.
Kohut, M. Klein, W. R. Bion, Chr. Bollas und St. Mitchell. Zwei
systematische Aufsätze »Trieb, unbewusste Triebwünsche und
Ersatzbildungen« und »Das Unbewusste als der virtuelle Andere«
bilden den Rahmen für dieses Kapitel. Die Herausgeber weisen auf
die Schwierigkeit hin, aus der Vielfalt der Ansätze eine
repräsentative Auswahl zu treffen. Aber: »Entscheidungskriterium
war, dass die Psychoanalyse einen paradigmatischen Weg von der
Triebpsychologie über die Ich- und Selbstpsychologie zur
Interaktions- und Intersubjektivitätstheorie nimmt. Diese
Schwerpunktverlagerung sollte hier nachgezeichnet werden« (S.
24).
Die Auswahl und Gestaltung der einzelnen Beiträge in diesen beiden
Kapiteln dokumentieren in vielen Fällen eine erfreuliche Offenheit
und kritische Reflexion psychoanalytischer Traditionsbildung. Die
Arbeit der einst abtrünnigen und diskreditierten Freud-Schüler wird
nicht nur inhaltlich gewürdigt, sondern es werden auch die Umstände
reflektiert, warum ihre Ansätze innerhalb der Psychoanalyse lange
Zeit nicht angemessen rezipiert wurden. Eindrücklich zeigen dies
besonders die Beiträge über Ferenczi (von Karla Hoven-Buchholz) und
Adler (von Almuth Bruder-Bezzel), die auf ein kreatives
psychoanalytisches Potential jenseits von Freud verweisen.
Im Unterschied zu Freud versteht Adler das Unbewußte nicht als
etwas, das aus verdrängten Trieben entstanden ist, sondern als
schöpferische, spielerische Kraft, die aus verschiedenen Motiven
auswählen kann.
Dieser Teil des Buches über die ›Pionierzeit der Psychoanalyse‹
enthält folglich auch wichtige Hinweise zur Geschichte der
Psychoanalyse und zur Rezeptionsgeschichte.
Die gegenwärtige Lage der Psychoanalyse zeichnet sich aus durch
eine Vielzahl von Richtungen, die in ihren Verzweigungen kaum
überschaubar ist. Die Herausgeber geben eine erste Orientierung mit
Hilfe des vorgestellten Paradigmenwechsels.
Neben der Triebtheorie, die bereits seit Freud und in der Folgezeit
vertreten wird, sei in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das
Paradigma der Ich- oder Selbstpsychologie entstanden. In der
gegenwärtigen Psychoanalyse finden wir außerdem das Paradigma der
Interaktions- oder Intersubjektivitätstheorie. Eine strenge
Trennung zwischen einzelnen Paradigmen ist nicht immer möglich; ein
Wechsel erfolgt in der Regel nicht abrupt, sondern als Prozeß. So
ist etwa in der Selbstpsychologie (Kohut) die Interaktions- oder
Intersubjektivitätstheorie bereits vorgezeichnet durch die Annahme
eines interaktiv konstituierten Selbst.
In der relationalen Psychoanalyse steht die Interaktion im Zentrum
des Interesses, wie der Aufsatz über Stephen Mitchell von M.B.
Buchholz zeigt. Mitchell kritisiert an der traditionellen
Psychoanalyse die »Ignoranz des Kontextes«. Im Unterschied dazu
richtet die relationale Psychoanalyse die Aufmerksamkeit auf die
Interaktion zwischen PatientIn und TherapeutIn – und Therapeutln
und PatientIn. Damit ändert sich auch die Rolle des/der
Psychoanalytikerln, der/die zu einem aktiven, lebendigen Gegenüber
wird.
Das Schlußkapitel der Herausgeber spannt einen Bogen um alle
geschichtlichen und aktuellen Konzepte des Unbewußten. Die Rede vom
Unbewußten, dies führen die Autoren an Beispielen vor (bei
Schopenhauer, Nietzsche, Freud), findet in Form von Metaphern
statt. Möglicherweise sei eine Rede über das Unbewußte überhaupt
nur in Metaphern möglich; die gewählten Metaphern aber werfen ein
Licht auf das zugrundeliegende Paradigma. Freud selbst hat sehr
viele, auch unterschiedliche Metaphern verwendet, um das psychische
Kräfteverhältnis zu beschreiben. Seine Metaphern wechseln in
Abhängigkeit von den wissenschaftlichen Voraussetzungen oder
Vorbildern: während der frühe Freud die bildhafte Sprache aus der
Medizin und den Naturwissenschaften entlehnt (z. B. das
Reflexbogenmodell, das Trägheitsprinzip), verwendet der mittlere
Freud die Bildersprache der Mythologie (Narziß, Odipus). Im
Spätwerk vergleicht Freud das Es mit einem »Kessel voll brodelnder
Erregungen«. Es wäre sicherlich eine lohnende Aufgabe zu
untersuchen, in welcher Weise sich die Metaphernsprache in den
verschiedenen psychoanalytischen Richtungen voneinander
unterscheidet.
Deutlich werden die Konsequenzen: In dem Augenblick, wo ich eine
Metapher als solche wahrnehme und analysieren kann, bin ich auch in
der Lage, ihre Grenzen und ihre Perspektivität zu bestimmen und sie
in Beziehung zu setzen zu anderen oder neuen Metaphern. Unter
diesem Gesichtspunkt wird die Metaphernforschung zu einem lohnenden
Instrument der Wissenschafts- und Therapiegeschichte. Ein Beispiel
bei Buchholz und Gödde sind die unterschiedlichen Metaphern für
Psychotherapie (als Kommunikation, Reparatur, Wachstum,
Unterricht), die ein deutliches Licht werfen auf das
unterschiedliche Therapieverständnis, das ihnen zugrunde liegt
(vgl. S. 706).
Abschließend läßt sich festhalten: Das Buch ist eine Fundgrube für
all diejenigen, die sich einen Eindruck verschaffen wollen über das
breite Spektrum unterschiedlicher Richtungen innerhalb der
Psychoanalyse; dabei werden auch Autoren und Schulen behandelt, die
bislang im ›mainstream‹ eher weniger berücksichtigt oder verzögert
zur Kenntnis genommen wurden.
Die einzelnen Aufsätze lassen sich unabhängig voneinander lesen,
auch wenn es den Herausgebern gelungen ist, den inneren
Zusammenhang zwischen den verschiedenen Beiträgen aufzuzeigen.
Gelegentliche Querverweise einzelner AutorInnen zu anderen
Aufsätzen in diesem Buch stützen dieses Anliegen.
Das Buch enthält eine Fülle von Material sowie Hinweise auf
weiterführende Literatur und Impulse zu neuen
Forschungsfeldern.
Obwohl sich das Buch insgesamt durch Offenheit und
Nicht-Dogmatismus auszeichnet, sind einzelne Beiträge sehr
Freud-zentriert, und sei es auch nur in Form der Abgrenzung.
Leserlnnen mit vorrangig wissenschaftstheoretischem oder
interdisziplinärem Interesse werden daher vielleicht eine gewisse
Einseitigkeit beklagen. Schön wäre es gewesen, wenn auch aktuelle
philosophische oder wissenschaftstheoretische Positionen in
Einzelbeiträgen stärker berücksichtigt worden wären. So aber
bleiben die philosophischen Fragestellungen auf den historischen
Teil beschränkt mit der Zielsetzung, die Voraussetzungen der
Psychoanalyse zu untermauern. Die ›Parteilichkeit‹ zeigt sich bei
einzelnen Beiträgen auch in bewertenden Formulierungen; dies muß
nicht zwangsläufig, kann aber die wissenschaftlich interessierte
Leserschaft schrecken.
Unabhängig von den genannten Kritikpunkten ist es ein gelungenes,
begrüßenswertes Projekt. Wir dürfen gespannt sein auf die beiden
Folgebände.