Rezension zu Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit
Psychologie Heute, Heft 6, Juni 2016
Rezension von Till Bastian
Wie sinnvoll ist mein Leben?
Carlo Strenger analysiert die weitverbreitete Angst, die eigenen
Potenziale nicht auszuschöpfen
Carlo Strenger ist in Basel geboren; heute lebt und lehrt er in
Israel. Der in einer orthodoxen jüdischen Familie aufgewachsene
Philosoph und Psychoanalytiker gehört zu den originellen Denkern
der Gegenwart. Schon auf der ersten Seite zitiert er Immanuel Kant,
und das ist Programm: Strenger, erklärter Freigeist, Atheist und
Weltbürger, versteht sich als Parteigänger der Aufklärung. Diese
sieht er weltweit bedroht und dringend der Wiederbelebung
bedürftig. Denn unserem Zeitalter mangele es immer mehr an der
Bereitschaft und Fähigkeit zum kritischen, unabhängigen Denken.
Laut Strenger leben wir in einer Epoche des dogmatischen
Schlummers, die dominiert wird von Menschen, »deren Identität in
erster Linie dadurch definiert wird, dass sie Teile des globalen
Infotainmentsystems sind«. Dieses Zur-Ware-Werden unseres Selbst,
von Strenger etwas umständlich »Kommodifizierung« genannt, führt zu
einer Instabilität der Selbstachtung und zum Zweifel daran, ob das
eigene Leben wirklich sinnvoll sei. Dem daraus resultierenden
existenziellen Unbehagen begegnet die Moderne mit Psychopharmaka
und einer seichten »Popspiritualität«. »Viele Menschen in der
globalisierten Welt leiden an tiefgreifenden existenziellen
Angststörungen und dem fortwährenden Gefühl, dass sie kein Leben
leben, das wirklich Sinn hat«, meint der Autor. Er zeigt, dass der
Großteil dieses Leidens nicht psychopathologisch ist, sondern ein
Resultat der Auswirkungen, die »der globale Markt der
Ich-Kommodifizierung auf uns alle hat«.
Diese treffende Diagnose ist nicht eben neu. Schon kurz nach dem
Ende des Zweiten Weltkrieges hat der US-Wissenschaftler David
Riesman den ersten »soziologischen Weltbestseller« veröffentlicht:
das Buch »The Lonely Crowd« (»Die einsame Masse«, deutsch 1956). In
der modernen Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft trete
zunehmend ein neuer »Charaktertyp« auf, der nicht mehr traditions-
oder innengeleitet sei, sondern durch den Einfluss seiner
Mitmenschen gesteuert. Strenger dehnt diese Argumentation auf die
moderne digitalisierte Gesellschaft aus, für die er das
»Infotainment« für charakteristisch hält.
Strengers Analyse liest sich überwiegend flüssig und spannend. Am
beeindruckendsten finde ich die Passagen, in denen er über seine
Auseinandersetzung mit ultraorthodoxen Juden berichtet. Manchmal
gerät die Lektüre etwas zäh durch seine Neigung, in großem Umfang
andere Autoren zu zitieren und zu rezensieren, wo man lieber mehr
über seine eigenen Gedanken erfahren hätte. Unterm Strich bleibt
ein positiver Eindruck –denn Strenger trifft vollends ins Schwarze,
wenn er gegen Ende seines Textes schreibt: »Wie hoch der Preis ist,
den wir dafür zahlen, dass die Bürger keine Ahnung haben von den
Grundlagen politischen Denkens, sehen wir täglich im Fernsehen.
Hier haben wir das traurige Schauspiel einer auf kurze Soundclips
reduzierten Politik vor Augen, einer Politik, die zu einem
Unterhaltungsspektakel verkommen ist, hinter dem ihre eigentliche
Aufgabe, das Nachdenken über das Gemeinwohl, vollkommen
zurücktritt.«