Rezension zu Mütter und Söhne - blasse Väter (PDF-E-Book)

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Rezension von Horst Jürgen Helle

Thema
Der Psychoanalytiker Matthias Hirsch wendet sich mit diesem Buch an Leser, die sich zu Fragen der engen, sehr personalen zwischenmenschlichen Beziehungen informieren möchten, seien diese nun frei von sexuellen Komponenten, wie typischerweise zwischen Geschwistern, oder seien sie auf gesunde oder auf krankhafte Weise sexualisiert. »Solche Sexualisierungen kommen durchaus häufig zwischen Mutter und Sohn, sogar Mutter und Tochter vor – das ja eigentlich das Kernthema dieses Buches ist«(118).

Weil die Perversion des Geschlechtsverkehrs im Zentrum steht, braucht man bei der Lektüre gute Nerven, um die inhaltlichen sowohl als auch die sprachlichen Zumutungen ertragen und den Reichtum an Material aus Fällen therapeutischer Praxis verarbeiten zu können. Auf seiner Internetseite schreibt Hirsch: »Während die Dynamik des Vater-Tochter-Inzests inzwischen gut erforscht ist, bleibt die narzisstisch oder sexuell missbräuchliche Beziehung der Mutter zu ihrem Sohn noch weitgehend im Dunkeln.« Um dieses Dunkel aufzuhellen, hat Hirsch das hier besprochene Buch vorgelegt.

Aufbau und Inhalt
An das Vorwort schließt der Verfasser sieben Kapitel an, gefolgt von dem Abdruck seines Vortrags zu dem Film »Shame«. Die Kapitelüberschriften lauten
1.) Pseudoödipales Dreieck,
2.) Psychodynamik der Mutter,
3.) Die Psychodynamik des Sohnes,
4.) Don-Juanismus (mit Hinweisen auf Mozarts Oper),
5.) Die Dynamik des Inzest-Vaters,
6.) Transgenerationale Weitergabe traumatisierender Gewalt,
7.) Prostitution.

Obschon Hirsch in früheren Werken seinen Zugang zu einem breiteren Ansatz unter Einschluss von Fragen der Kulturgeschichte zeigen konnte, beschränkt er sich hier auf ein Minimum an theoretischem Instrumentarium: Er argumentiert fast ausschließlich mit Dreiecksbeziehungen. Kapitel 1 geht von der plausiblen Einsicht aus, dass in dem Dreieck Vater-Mutter-Kind eine durch Zuwendung und Präsenz ausgeglichene Balance bestehen muss. So müssen eben beide Eltern an der Familienbeziehung partizipieren, weil sich sonst »aufgrund einerseits sexuell überstimulierender Beziehungsqualitäten, andererseits einer durch Unterversorgung durch Abwesenheit und Vernachlässigung der wahren Bedürfnisse der Kindes« (20) bedingten Schädigung krankmachende Repräsentanzen beider Eltern ergeben können.

Kapitel 2 ist besonders wichtig wegen der Zunahme des Anteils alleinerziehender Mütter: Es geht hier um »die Macht der Mutter über den Sohn« (21). Zum Thema der »Megalomanie« einer Mutter bezieht der Verfasser sich auf Racamier und besonders auf Soulé, von dem Hirsch den Gedanken zitiert, dass die von Omnipotenzphatasien erfüllte Mutter »ein allmächtiges Jesuskind hält: Das sind Verkündigung und Heimsuchung. Die Mutter mit ihrem Kind ist der Phallus. Die Frau, die mit ihrem Kind spielt, hat einen Penis«(21). Da dies nicht kommentiert wird, müssen Leserin und Leser meinen, dass Hirsch diese Überlegungen nicht abwegig findet. Überzeugender wird zu einem der Ursprünge mütterlicher Perversion aus der einschlägigen Literatur eine »fehlende Akzeptanz durch die Mutter« (der nun problematisch gewordenen jungen Frau) »in der frühen Kindheit« erwähnt (22). Dadurch fehlt ihr die Anerkennung des eigenen Geschlechts als Frau, die sie brauchte, um selbst Mutter zu sein.

Solche Thesen dienen Hirsch, um mit Gerhard Amendt zu erklären, »warum Frauen eine besonders intensive Sorge um den Penis ihres Sohnes entfalten.« (28). Ein Abschnitt dieses Kapitels trägt die Überschrift »Vorhautfetischismus«. Hier erwähnt Hirsch die Praxis der Beschneidung aus nicht-religiösen Gründen (33), weil Mütter befürchten »die Söhne könnten später beim Geschlechtsverkehr Probleme bekommen« (33). Ebenfalls im Anschluss an Amendt wird »die Hinwendung der unzufriedenen Frau zum Sohn« so gedeutet: »Für diese Frauen sind die Ehemänner dann ›dumme Jungs‹, die von Frauen nichts verstehen, und die Söhne die ›einfühlsameren Männer‹, die wissen, was Frauen wünschen«(34).

In Kapitel 3 »Die Psychodynamik des Sohnes« werden Patientenberichte präsentiert, aus denen das Hochgefühl des jugendlichen Sohnes hervorgeht, der von seiner eigenen Mutter zu deren Sexualpartner gemacht wurde. Freilich kann die so erlebte Seligkeit nur vorübergehend sein, und der Absturz danach ist dann umso schrecklicher. Karin C. Meiselman berichtete vor Jahrzehnten in ihrem Buch »Incest« (1978), dass Fälle von Mutter-Sohn Inzest praktisch nicht therapierbar sind. Verglichen damit entsteht hier der Eindruck, dass diese Form der Perversion fast bagatellisiert wird. Als Grund für den Ausfall des Vaters und die daraus folgende Fehlentwicklung der Mutter-Sohn-Beziehung nennt Hirsch auch Arbeitsmigration (56) und trägt damit zum Nachdenken über »Gastarbeiter«-Probleme bei.

Kapitel 4 heißt »Don-Juanismus«. Hirsch erinnert an Mozarts Leporello mit der Arie »In Italia, 1.003«, also Don-Juan habe allein in Italien über tausend Frauen verführt. Dann meint der Verfasser im Anschluss an Rank: »Don Juan suche in jeder Frau die Mutter, die er doch nie erreichen könne« (97). Das Argumentieren mit dem Ödipuskomplex wirkt hier wenig überzeugend. Ein anspruchsvolleres theoretisches Instrumentarium wäre hilfreich, kommt aber nicht zum Einsatz.

Kapitel 5 erläutert »Die Dynamik des Inzest-Vaters«. Den stellt Hirsch in die Nähe zum Don-Juan, dem der Vater insofern ähnelt, als er »rastlos die ideale Frau ersehnt, die er sich in der Phantasie erschafft« (112). Dabei wird wegen des Verzichts auf Kulturtheorie nicht erwogen, dass eine nachhaltige Schwächung des Vaterbildes in einer individualisierten Kultur auch die Wirksamkeit des Inzesttabus schwächt, bis zu dem Punkt, an dem Vater und Tochter einander nur noch als liebenswerte Personen des anderen Geschlechts erleben und eben nicht mehr als durch ein von der Kultur getragenes Tabu getrennt. Doch das wird in dem hier besprochenen Buch nicht erwähnt.

Kapitel 6 beschreibt die »Transgenerationale Weitergabe traumatisierender Gewalt«. Hier unterscheidet Hirsch zwei Formen der Identifikation mit dem Aggressor: Das weibliche Inzestopfer übernimmt die Schuld vom Täter und verharrt über den Wiederholungszwang lebenslang in der Opferrolle; »der männliche Jugendliche… dagegen hat sozusagen keine Lust, Opfer zu bleiben« und »imitiert lieber den Täter« (119), wird also selbst gewalttätig.

Kapitel 7 bietet viel Material zum Thema »Prostitution« und erläutert die unterschiedlichen Ebenen, auf denen Frauen sich für Geld hingeben, vom Straßenstrich bis hinauf zum Callgirl mit internationaler Kundschaft. Das Thema »Dreiecksbildung«, das Hirsch immer wieder ins Zentrum seiner Deutungen stellt, betrifft nun auch die Beziehung zwischen Prostituierter, Zuhälter und »Freier«. Als guter Therapeut identifiziert der Verfasser sich in Stück weit mit der jungen Frau, die den Weg von der Studentin zum Callgirl gegangen ist und erkennt die »Leistung, die sie in der Rebellion und in dem Protest gegen die bürgerliche und in gewisser Weise inzestuöse Welt nötig hat« (156).

Fazit
Der vorgegebene Rahmen einer Rezension lässt eine wirkliche Diskussion des Buches nicht zu. Das schließt es insbesondere aus, die politischen Implikationen zur Sprache zu bringen, die sich mindestens mit dem Namen Günter Amendt verbinden, der 2011 durch einen Autounfall ums Leben gekommen ist. Leserin und Leser werden selbst darüber reflektieren müssen, ob hinter dem albernen Spott »die Psychoanalyse ist das Problem, für dessen Lösung sie sich hält« ein Körnchen Wahrheit steckt. Völlig jenseits solcher wertenden Überlegungen bietet das Buch von Hirsch einen ungewöhnlich wertvollen Fundus an Material: Lebensläufe, Therapieberichte und Protokolle von Gruppensitzungen. Allein schon deshalb muss dem Verfasser dafür gedankt werden, dass er diese Daten der therapeutischen und allgemein wissenschaftlichen – hoffentlich interdisziplinären – Weiterarbeit zugänglich gemacht hat.

Rezensent
Prof. Dr. Horst Jürgen Helle
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Soziologie

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