Rezension zu Schwule Sichtbarkeit - schwule Identität
libertäre buchseiten, beilage der graswurzelrevolution Nr. 417, März 2017
Rezension von Antje Schrupp
Homosexualität und Antirassismus
Der westliche Diskurs über Homosexualität ist eng mit Nationalismus
und rassistischen Zuschreibungen an ›Migrant_ innen‹ verbunden.
Viele Menschen im Westen sind überzeugt, dass die Akzeptanz
vielfältiger sexueller Identitäten eine speziell westliche
Errungenschaft sei. Und allzu oft dient der Vorwurf der Homophobie
der Bekräftigung einer westlichen Überlegenheit und die Behauptung,
man müsse LGBTQ-Rechte (1) schützen, zur Legitimation von
Kriegen.
Das Buch »Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität. Kritische
Perspektiven« von Zülfukar Çetin und Heinz-Jürgen Voß liefert
wichtige Erkenntnisse zu dieser Verbindung und bezieht klar eine
Position auf der antirassistischen Seite des Diskurses.
Heinz-Jürgen Voß, Sexualwissenschaftler an der Uni Merseburg,
beschreibt im ersten Teil des Buches, wie westliche schwule Männern
im 19. und frühen 20. Jahrhundert ein identitäres
Homosexualitätskonzept entwickelten, auch um sich mit dieser Hilfe
von den »südländischen« Männern oder den Männern in
kolonialisierten Ländern hierarchisch abzugrenzen. Diese, so wurde
unterstellt, hätten zwar auch irgendwie Sex mit Männern, wären aber
nicht wirklich homosexuell.
Die Türkei, so erfahren wir außerdem, war am Anfang des 20.
Jahrhunderts offenbar ein Eldorado für westliche Schwule, weil man
sich dort nicht verstecken musste – so ändern sich die Zeiten, denn
heute wird ja speziell türkischen jungen Männern oft eine besonders
ausgeprägte Homophobie zugeschrieben. Amüsant ist auch zu lesen,
wie mit Hilfe westlicher Wissenschaftskonstrukte im späten 19.
Jahrhundert das ominöse »homosexuelle Wesen« konstruiert wurde, das
bestimmte Menschen eben hätten und andere nicht: Man versuchte, es
in körperlichen Markern zu vereindeutigen; in den Keimdrüsen zum
Beispiel oder in den Genen, je nachdem, was in der Biologie gerade
Mode war. Vielleicht ist die enge Verbindung dieser »Erfindung«
einer bestimmten Weise der Homosexualität mit rassistischen und
nationalistischen Ideologien in dem Buch etwas zu stark gezeichnet.
Eigentlich müsste man die entsprechenden Diskurse jetzt noch einmal
in einem größeren Rahmen kontextualisieren, um sie entsprechend
bewerten zu können Aber unbedingt muss heutiger schwuler Aktivismus
diese Schattenseiten der eigenen Geschichte reflektieren. Voß
schlägt im Übrigen vor, dass wir Homosexualität als fixes Konzept
wieder »verlernen« sollten. Denn durch die Konstruktion fester
Identitäten und Schubladen (Hetero, Homo, Bi) bringen wir zum
Beispiel Jugendliche in die Situation, dass sie sich irgendwo
zuordnen müssen Und diejenigen, die sexuelles Begehren zu Menschen
ihres eigenen Geschlechts verspüren, werden gezwungen, sich als
»Andere« zu outen – die zwar inzwischen nicht mehr so stark wie
früher diskriminiert werden, aber eben doch nicht »normal«, nicht
die Mehrheit sind. Eigentlich ist es aber unnötig, mit solchen
Schubladen zu operieren.
Im zweiten Teil des Buches beschreibt der Soziologe Zülfukar Çetin,
wie sich diese Diskurse heute in Berlin darstellen, wie sich
antimuslimischer Rassismus und schwuler Lobbyismus miteinander
verbinden, wie das Ganze Gentrifizierungsprozesse anstößt und
emanzipatorische queere Bewegungen in den muslimischen oder
migrantischen Communities unsichtbar macht oder behindert. Hier
hätte ich mir manchmal eine stärkere Anknüpfung an die
ideengeschichtlichen Grundlagen des ersten Teils gewünscht, da sich
manches eher als Predigt zu den bereits Bekehrten liest, während
die Vermittlung der Analyse etwas zu kurz kommt. Wer die Grundthese
nicht ohnehin schon teilt, wird sich hiervon kaum überzeugen
lassen.
Aber insgesamt ist das Buch ein wichtiger Diskussionsbeitrag, der
auch dabei helfen kann, das inzwischen Mainstream gewordene
Verständnis nochmal zu hinterfragen, wonach Homosexualität
letztlich bloß eine gleichgeschlechtliche Kopie der bürgerlichen
heterosexuellen Paarkonstruktion ist.
Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen schwulen und
lesbischen Praxen in anderen Kulturen könnte dabei jedenfalls
inspirierend sein
Antje Schrupp
Anmerkung:
1) LGBTQ (auch GLBT und LSBTTIQ) ist eine aus dem englischen
Sprachraum kommende Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual,
Transgender und Queer, also Lesben, Schwule, Bisexuelle,
Transgender und Queer.
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