Rezension zu Religiöser Glaube und säkulare Lebensformen im Dialog
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Rezension von Gertrud Hardtmann
Jürgen Straub: Religiöser Glaube und säkulare Lebensformen im
Dialog
Thema
Überlegungen zu einem Dialog zwischen religiösen und säkularen
Weltanschauungen, da beide unter kulturpsychologischer Perspektive,
soweit ein Kontingenzbewusstsein und Offenheit in Bezug auf das
Selbst- und Weltverhältnis vorhanden ist, in wechselseitiger
Anerkennung innerhalb eines ›offenen Regimes der Laizität‹ (Taylor)
mehr verbindet als trennt.
Autor
Soziologe und Psychologe, ist seit 2008 Inhaber des Lehrstuhls für
Sozialtheorie und Sozialpsychologie an der Fakultät für
Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Er ist
Mitherausgeber der Zeitschrift ›psychosozial‹ und in der Leitung
des ›Hans Kilian und Lotte Köhler Centrum für sozial- und
kulturwissenschaftliche Psychologie und historische Anthropologie‹.
2015 wurde ihm der Ernst-E.-Boesch-Preis für Kulturpsychologie
verliehen.
Entstehungshintergrund
Anregung zu diesem Thema waren unter anderem eine Tagung des ›Hans
Kilian und Lotte Köhler Centrum für sozial- und
kulturwissenschaftliche Psychologie und historische Anthropologie‹
im Juni 2015 an der Universität in Bochum, Gespräche mit Hans Joas,
die persönliche Bekanntschaft mit dem 2014 verstorbenen Ernst
Boesch, dessen Archiv von der Ruhruniversität verwaltet wird, dem
Kulturpsychologen Hans Werbik, Jörn Rüsen und Lotte Köhler.
Aufbau
Das Buch ist gegliedert in eine Übersicht über das Thema und das
Programm, aus der Sicht der Religionswissenschaften einen Blick auf
Säkularismen und andere Ideologien zu werfen, neue und alte
Antagonismen aufzuzeigen und zum Nachdenken über das Faktum
vernünftiger Pluralität im Regime der Laizität nachzudenken in der
Grundüberzeugung von ›qualitativen Identitäten‹ im Kampf um
gegenseitige Anerkennung. Es endet mit dem Konzept
strukturtheoretischer Konturen offener personaler Identität,
Kontingenzsensibilität und Kontingenzbewusstsein als
Strukturmerkmale religiösen und säkularen Glaubens.
Inhalt
Den Richtlinien und den Vergabekriterien des Ernst-E-Boesch-Preises
für Kulturpsychologie sind eingangs 2 Seiten gewidmet. Es folgt
dann die Laudatio anlässlich der Verleihung des Preises 2015 an
Jürgen Straub von Jens Brockmeier (13 S.) und die Danksagung von
Jürgen Straub (5 S.).
Im ›Präludium zum Programm‹ beschäftig sich Straub mit den
vermeintlichen oder tatsächlichen, nicht selten durch Vorurteile
bedingten, schwierigen Beziehungen zwischen religiösen und
säkularen Lebensformen. Fehlende Differenzierungen befördern
Misstrauen und Fremdheit und verschleiern Ähnlichkeiten und
Verwandtschaften, insbesondere wenn es um die persönliche Identität
– das Selbst- und Weltverhältnis – geht. Kontingenzbewusstsein und
Kontingenzsensibilität machen offen für Strukturähnlichkeiten und
Unterschiede und Fragen: Wie lassen sich religiöser Glaube und
säkulare Lebensformen anstatt zu rivalisieren in einem offenen
Dialog halten, oder wie lässt sich personale Identität und
Kontingenz in pluralistischen Gesellschaften leben, ohne
miteinander in Streit zu geraten? (11 S.)
Das Kapitel ›Säkularismus und andere Ideologien im Blickfeld der
Religionswissenschaften und Secular Studies‹ beginnt mit einem
Zitat von Taylor, dass eine der größten Herausforderungen unserer
Zeit der Umgang mit moralischer und religiöser Vielfalt sei. Unter
säkular oder religiös verbergen sich viele Überzeugungs-,
Handlungs- und Orientierungssystemen, die inzwischen zu einem
eigenen ›Forschungsprogramm Nichtreligion‹ geführt haben, von denen
ein Drittes, nämlich eine völlige Indifferenz oder ein
Desinteresse, noch eine eigene Kategorie darstellt. (8 S.)
Ein umfangreicher Abschnitt ›Neue Atheismen und alte Antagonismen:
Auswege willkommen‹ (66 S.) beschäftigt sich kritisch mit den
kämpferischen Strömungen des Atheismus und, bezogen auf
Schnädelbach, damit, dass Aufklärung nicht ungebührlich
vereinfachend mit Religionskritik gleichzusetzen sei. Auch
Aufklärung kann ressentiment- und affektgeladen sein, – vor allem
ein männliches Phänomen. Auch Unvernunft, weil menschlich, müsse im
Leben einen Platz haben, insbesondere wenn Weltbilder und
Lebensformen zunehmend auseinander driften. Ein antagonistischer
Kampf und Sündenbockstrategien führen nicht weiter, stattdessen
Toleranz und Anerkennung der jeweils anderen Position. ›Neuer
Atheismus‘‹oder die ›Kirche der Ungläubigen‹ (Wolf) kann auch quasi
religiöse fundamentalistische Züge tragen, insbesondere wenn
heftige Gefühle (Hass, Spott, Arroganz) im Spiel sind und es um
Anerkennungsverweigerung und Entwertung anderer Identitäten geht.
Mit zahlreichen Beispielen belegt Straub diese mitunter eher
peinlich ausgetragenen Kontroversen, u.a auch mit dem ›Exkurs zu
Thomas Metzingers Traktat über die »intellektuelle Unredlichkeit«
der religiösen Gläubigen‹ (10 S.) und weiteren Varianten eines
aggressiven ›Neuen Atheismus‹ (8 S.).
Es folgt ein kritischer Exkurs zum Plädoyer des Philosophen Daniel
Dennett (21 S.) für eine ›naturalistische Religionsforschung‹.
Obgleich relativ tolerant gegenüber Gläubigen, unternimmt auch er
den Versuch, Gläubige durch wissenschaftliche Befunde und Argumente
zu überzeugen. Einerseits erkennt er die kulturellen und sozialen,
vor allem Gemeinschaftsleistungen, religiöser Menschen an,
andererseits fragt er, ob Religion nicht mehr nützt als schadet.
Die sog. ›heiligen Werte‹ wie Demokratie, Gerechtigkeit, Leben,
Liebe und Wahrheit entstammten auch der säkularen Welt; deshalb sei
die Bereitschaft zum Dialog und gegenseitiger Respekt wichtig. Nach
Meinung von Straub findet dieser Dialog bereits statt, doch sei
strittig, ob naturwissenschaftliche Methoden dem Selbst- und
Weltverständnis von Gläubigen, ihrem Denken, Fühlen, Wünschen,
Wollen und Handeln angemessen gerecht werden können. Straub
verweist auf William James und seine sensible Interpretation
unterschiedlicher religiöser Formen und den Unterschied eines
hermeneutischen Zugangs gegenüber einem naturwissenschaftlichen.
Straub befasst sich dann mit Schnädelbach, dem ›exzentrisch-milden
Atheisten‹ unter dem Titel: ›Ungläubig sein und glauben lassen.‹ (5
S.) und weist auf die Modifikationen hin, die im Zuge der
Aufklärung auch bei den Religionen stattgefunden haben. Der ›fromme
Atheist‹ halte den Glauben als entspannter Agnostiker für eine
Privatsache. Im Kapitel ›Gläubige und Ungläubige im Dialog:
Ähnlichkeiten im Verschiedenen – Zum ›Einvernehmen‹ zwischen Jürgen
Habermas und Joseph Ratzinger‹ (13 S.): Das gelingt, wenn die
personale Identität auf beiden Seiten ›ein offenes, kontingentes
und dynamisches Selbst- und Weltverhältnis‹ enthält, das
Zusammenleben nicht als etwas Bedrohliches, sondern als eine
positive Herausforderung verstanden wird und man sich bewusst ist,
dass das kulturelle Gedächtnis über Jahrhunderte funktioniert,
während das kommunikative, das die Erinnerungen an die soziale
Erfahrung beinhaltet, nur über einige Jahrzehnte wach bleibt
(Assmann 1997). Das eigene Dasein als eine Möglichkeit unter
anderen zu begreifen heisst auch die Konfliktlinie nicht zwischen
religiös und säkular zu ziehen, sondern antitotalitär zwischen
Menschen mit und ohne Kontingenzbewusstsein und Offenheit für die
Überwindung innerer Barrieren und Vorurteile und Lernbereitschaft
auf Augenhöhe. Auch säkulare Weltsysteme schöpfen aus religiösen
Quellen, und in religiösen Traditionen sind Erfahrungen lebendig,
die ernst zu nehmen sind.
Das zweite grosse Kapitel trägt den Titel: ›Religiöser Glaube, das
abgepufferte Selbst und das Faktum vernünftiger Pluralität im
Regime der Laizität‹ (20 S.). Für die Moderne sei das ›Prinzip
radikaler Pluralität‹ konstitutiv, das man aber enger und weiter
auslegen könne nach einem Verweis auf Studien über fromme Atheisten
(Ante 2013, Flasch 2013, Neumaier 2013, Murken 2013), insbesondere
da der Alltag genügend Raum für Nichtreligiöses biete. Der Begriff
der Selbsttranszendenz (Joas) sei nicht auf religiöse Phänomene
begrenzt, sondern auch auf ästhetische, zwischenmenschliche und
erotische Erfahrungen. Die ›abgeschlossenen Weltstrukturen‹ (AWS)
beinhalten nach Taylor oder Gadamer Vorurteilsstrukturen arroganter
normativer Hierarchien, bei denen die Gläubigen schlecht
abschneiden. Stattdessen plädiert Straub für einen konsequenten
Anti-Fundamentalismus und eine personale Identität im Sinne einer
kontingenten, kontigenzsensiblen und kontingenzbewussten offenen,
auf Toleranz und Anerkennung basierenden, kommunikativen Struktur,
die ihre Grenzen nur dort hat, wo professionell eine unparteiliche,
neutrale Haltung wünschens- und notwendig ist.
Der Abschnitt ›Grundüberzeugungen und ›qualitative Identitäten‹ im
Kampf um Anerkennung‹ (13 S.) geht noch einmal auf die personale
Identität, Gesamtheit aller Überzeugungen, Werte, Wissensbestände,
Glaubenssätze, Meinungen, Einstellungen, Orientierungen,
Interessen, Wünsche Motive, Gefühle, individuelle Eigenarten und
Eigenschaften, soziale Rollen und Funktionen einer Person ein, die
sowohl sein Weltverständnis als auch sein Weltverhältnis prägen,
mithin auf alles, was das das Sein eines Menschen im Wesentlichen
ausmacht, eine lebendige und variable Mischung von
Grundüberzeugungen, nach denen Menschen leben und handeln.
Praktiken der Stigmatisierung, Diskriminierung, Marginalisierung
und Exklusion (am Beispiel Kippa oder Kopftuch) können den
Betroffenen die ›Luft zum Atmen abschnüren‹ und nicht nur
Demütigung und Frustration erzeugen, sondern auch in Aggression,
Wut und Hass umschlagen. Werte und Grundüberzeugungen sind wichtig,
verwoben mit einer Lebens- und Handlungspraxis, die gleichzeitig
lebendig und offen – ohne Angst und Überforderung – gehalten sein
sollte i.S. eines expansiven Lernens (Holzkamp 1993).
Es folgt das Kapitel ›Strukturtheoretische Konturen personaler
Identität als offene Form. Interreligiöse und religiös-säkulare
Familienähnlichkeiten‹ (14 S.) Im Anlehnung an Taylor, der
Identität definiert als das ›Gefühl, auf das es uns wirklich
ankommt‹ geht es Straub um den Unterschied zwischen ›qualitativer
Identität‹ und ›personaler Identität als Form und Struktur‹, die
Selbst- und Weltbeziehung einschließt und spezifische religiöse und
areligiöse Lebensformen als ›zeitgemäße Lebens- und
Subjektivitätsformen‹ ausweist. Toleranz erfordert Empathie und
Dezentrierung und eine Ethik des Dialogs, die in der Position der
Totalität (adaptive Rigidität) und Multiplizität (adaptive
Diffusion) fehlt; Differenz und Heterogenität lösen dann kognitive,
emotionale und motivationale Spannungen im Subjekt aus, die es
schwierig machen im Zeitalter der Kontingenz urteils-,
orientierungs- und handlungsfähig zu bleiben.
Die positiven Möglichkeiten beschreibt Straub im letzten Kapitel
›Kontingenzsensibilität und Kontigenzbewusstsein als
Strukturmerkmal religiösen Glaubens. Eine Variante der
gottesgläubigen Person‹ (11 S.). Das setzt Offenheit für Zweifel
und kritische Selbstwahrnehmung voraus, die Wünsche nach
Verminderung von Komplexität und Kontingenz zwar nicht befriedigen,
aber in einem lebendigen Austausch auch zu qualitativ bereichernden
neuen Erfahrungen führen und nicht in eine radikale
Unverbindlichkeit münden. Werte behalten auch dann ihre
orientierende und motivierende Kraft, wenn sie auf konkurrierende
Werte stoßen. Das Gespräch, Dialog und Polylog, hat eine große
Anziehungs- und Aussagekraft (Joas), sich über den eigenen
›Glauben‹ Klarheit zu verschaffen und die personale Identität zu
stärken über die Solidarität mit Anders- oder Ungläubigen. Die
Suche nach einem sozial- und kulturtheoretischen Konzept im
Zeitalter der Laizität führt zu einer radikalen Offenheit gegenüber
radikaler Pluralität, Kontingenzsensibilität und
Kontingenzbewusstsein durch den inneren Zusammenhang
soziokultureller Lebensbedingungen und der Struktur des Selbst- und
Weltverhältnisses von Personen, die in einem ständigen Dialog, das
Lebenselixier pluralistischer Gesellschaften, eingebunden sind.
Der Anmerkungsteil (32 S.), schon der Umfang zeigt, dass er nicht
unwesentlich ist, dient der weiteren Vertiefung und Anregung, sich
an der lebendigen und engagierten gesellschaftlichen und
wissenschaftlichen Diskussion zu beteiligen.
Diskussion
Ich hatte das Gefühl, dass ich dem Autor beim Schreiben zuschaue,
wie er seine Gedanken entwickelt, mitunter wieder auf Bekanntes
zurückgreift oder neue Perspektiven hinzufügt, die das Bild von
verschiedenen Seiten zu betrachten ermöglichen und immer wieder
neue Anregungen zum Nachdenken bieten. Dabei sind vielleicht die
Auseinandersetzungen mit den Positionen von Metzinger, Denett und
Schnädelbach etwas lang geraten (für den Leser), so dass ich
zeitweise versucht war, bereits auf die beiden letzten Kapitel
vorzugreifen. Andererseits sind diese auch wichtig, da sie das
Argument des Autors vom ›religiösen Atheismus‹ stützen und für den
Leser nachvollziehbar machen.
Das Buch greift ein wichtiges Thema auf, das insbesondere mit
Schülern diskutiert werden sollte, um diese auf das Leben in einer
pluralistischen Welt vorzubereiten.
Die umfangreichen Anmerkungen sind eine Lektüre für sich, die jedem
Spass machen werden, der sich weiter, und auch eigenständig, mit
dem Thema auseinandersetzen will.
Einer Frage hat der Autor angesprochen, ohne sie weiter zu
vertiefen, die aber mich als Leser(in) beschäftigt hat: Warum ist
die fehlende Anerkennung von Differenz und Kontingenz ein
vorwiegend männliches Phänomen? Das wäre eine Fortsetzung des
Themas wert.
Fazit
Ein Plädoyer für eine offene pluralistische Zivilgesellschaft, die
im Bewusstsein von Kontingenz und Differenz einen für beide Seiten
fruchtbaren Dialog von unterschiedlichen personalen Identitäten,
religiösen und atheistischen, ermöglicht.
Rezensentin
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 27.02.2017 zu: Jürgen Straub:
Religiöser Glaube und säkulare Lebensformen im Dialog. Personale
Identität und Kontingenz in pluralistischen Gesellschaften.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2016. ISBN 978-3-8379-2612-5. In:
socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/22157.php, Datum des Zugriffs
27.02.2017.
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