Rezension zu Wie viel Richtlinie verträgt die Psychoanalyse?
à jour! Psychotherapie-Berufsentwicklung Nr. 4 (2016)
Rezension von Veronica Baud
Wie viel Richtlinie verträgt die Psychoanalyse?
Eine kritische Bilanz nach 50 Jahren Richtlinien-Psychotherapie
Veronica Baud
Das Autorentrio Thomas Hartung, Eike Hinze und Detlef Schäfer setzt
sich in seinem Gemeinschaftswerk mit einem auch für Schweizer
Psychotherapeuten/-innen sehr aktuellen Thema auseinander, wenn es
das Spannungsfeld zwischen psychoanalytischer Praxis und den
gesetzlichen Vorgaben durch die Krankenversicherer untersucht.
Anlass dafür gibt das 50-jährige Jubiläum der Anerkennung der
Psychotherapie als Leistung der gesetzlichen Krankenkassen und der
damit verbundenen Einführung der Psychotherapie-Richtlinien. Dabei
liegt der Fokus entsprechend der psychotherapeutischen Ausrichtung
der drei Autoren auf der Psychoanalyse und den tiefenpsychologisch
orientierten Schulen. Dazu ist zu bemerken, dass in Deutschland
ausser der Verhaltenstherapie nur noch diese beiden
Psychotherapie-Ausrichtungen ihre Leistungen über die Krankenkasse
verrechnen können. Da die Verhaltenstherapie ihren Schwerpunkt mehr
auf Kurzzeittherapien legt, geraten die beiden anderen
Orientierungen in Deutschland stärker in den Fokus der
Krankenkassen und den Generalverdacht, kostspielige
Langzeittherapien mit einem zweifelhaften Nutzen für die
Patienten/-innen zu praktizieren. Mit diesem Vorwurf und mit dem,
was dieser Vorwurf mit den Psychoanalytikern/-innen macht, setzen
sich die drei Autoren auseinander. Dabei hat jedes Kapitel eine
eigene Literaturliste und eine übersichtliche Struktur.
Der oben genannte Vorwurf wird bereits von Eike Hinze in seiner
Einführung entkräftet: Eine Studie von 2009 hat nämlich gezeigt,
dass selbst Psychoanalytiker, denen eine hochfrequente
Psychoanalyse mit einem Stundenkontingent von 160 Stunden
zugesprochen wurde, dieses in 75% der Fälle nicht ausschöpften.
In seinem der Einführung folgenden Kapitel über »Das Honorar des
Psychoanalytikers« setzt er sich noch differenzierter mit den
Finanzierungsmodalitäten in der Psychoanalyse auseinander. Dabei
geht er von Freuds Praxis aus und zeichnet die Entwicklung des
Verhältnisses der Psychoanalytiker zu ihrem Honorar im Laufe der
nachfolgenden Jahre nach. Hier geht er der bis heute andauernden
psychoanalytischen Diskussion auf den Grund, dass es für den
psychoanalytischen Prozess wichtig ist, die Analysandin bezahlt
ihre Analyse selber und wird nicht durch eine Krankenkasse
fremdfinanziert. Diese These hält er für nicht erwiesen und sieht
Vor- und Nachteile für beide Modalitäten.
Detlef Schäfer setzt sich in dem daran anschliessenden Kapitel mit
dem Verhältnis der Krankenversicherung und der Psychoanalyse
auseinander. Zu Beginn erläutert er einerseits die Entwicklung der
Psychoanalyse und andererseits diejenige der
Krankenkassenversorgung. In diesem Zusammenhang befasst er sich mit
den verschiedenen Rollen, die der Psychoanalytiker in seinem
berufspolitischen Umfeld einnimmt. Ein Faktor, an dem sich das
Ringen der Psychoanalytiker mit den gesundheitspolitischen
Veränderungen besonders deutlich zeigt, ist die Frequenz. Seit dem
Inkrafttreten der Psychotherapie-Richtlinien von 1993 sind nur noch
3 Sitzungen pro Woche genehmigt, was in der Settingfrage zu grossen
Differenzen geführt hat. In seinem Resümee bleibt Schäfer etwas
unkonkret, wenn er fordert, dass die Psychoanalytiker sich zwar den
neuen Entwicklungen des Gesundheitssystems nicht entziehen dürfen,
aber dennoch ihren eigenen Prämissen treu bleiben sollten. Hier
hätte man sich etwas klarere Aussagen gewünscht, wie das aussehen
könnte.
In dem darauffolgenden Kapitel zeichnet Detlef Schäfer die
Entwicklung der Psychotherapie-Richtlinien nach, wobei er im Jahr
1967 beginnt, als die Psychotherapie in die Krankenkassenleistungen
aufgenommen wurde. Hier setzt er sich einerseits mit dem Wandel des
Krankheitsmodells und andererseits mit den Vorgaben für die
verschiedenen Methoden auseinander. Auch am Ende dieses Kapitels
plädiert er dafür, dass sich die Psychoanalytiker mit ihrem
Behandlungskonzept ihren Platz in den Richtlinien sichern müssen,
ohne sich dabei selber zu verleugnen. Auch hier klingt sein
Plädoyer etwas resigniert angesichts der gesundheitspolitischen
Entwicklungen, die immer stärker auf Effizienz und
Wirtschaftlichkeit abzielen.
In den nachfolgenden Kapiteln beschäftigt sich Thomas Hartung mit
dem Einfluss und den verschiedenen Perspektiven der in dem
Spannungsfeld zwischen Psychoanalyse und Psychotherapie-Richtlinien
stehenden Protagonisten wie: Analytiker, Analysand,
Ausbildungskandidaten, Supervisor und Richtlinienvertreter, wobei
er die jeweilige Perspektive einnimmt und teilweise mit
Fallvignetten zur Veranschaulichung arbeitet. Dabei kommt er zu dem
Schluss, dass zumindest seine eigene Auseinandersetzung mit den
Richtlinien dazu geführt hat, eine innere Unabhängigkeit zu finden.
Es besteht für ihn aber auch die Gefahr, dass die Begrenzung in der
Behandlung dazu verführen könnte, unbequeme Patienten schneller los
zu werden. Jedoch sieht er auch klare Vorteile für die
Patienten/-innen, deren finanzielle Situation durch die Übernahme
der Behandlungskosten durch die Krankenkasse deutlich entlastet
wird. Vor allem die Beschäftigung mit den Ausbildungskandidaten und
Supervisoren zeigt, dass in Deutschland das Ausbildungssystem
deutlich reglementierter ist als in der Schweiz. Hier werden den
Ausbildungskandidaten sowie den Supervisoren genaue Stundenzahlen
und deren Frequenz pro Woche vorgeschrieben. Dies führt zu einem
rechten Leistungsdruck, wollen beide ihre Vorgaben im dafür
angesetzten Zeitrahmen schaffen. Es liegt auf der Hand, dass dies
einen nicht unerheblichen Einfluss auf die jeweilige berufliche
Tätigkeit hat. Bei der Auseinandersetzung mit den
Richtlinienvertretern weist Hartung auf ein erstaunliches deutsches
Phänomen hin, das seinen Eingang in die Psychotherapie-Richtlinien
gefunden hat: Es darf nur eine hochfrequente Analyse begonnen
werden, bei der innerhalb mindestens 160 Stunden, längstens 240
Stunden, ein Erfolg abzusehen ist; sollte dies nicht der Fall sein,
darf die Analyse auch nicht in Eigenfinanzierung fortgesetzt
werden. Offenbar ist dieser eigenartige Passus in den Richtlinien
ein Versuch der Versicherer, eine gewisse Kostenlimitierung zu
erreichen, die jedoch nicht offen ausgesprochen werden darf, da in
Deutschland gemäss dem Naturleistungsprinzip dem Patienten keine
ausreichende, vollständige Behandlung – was auch immer das ganz
genau sein soll – versagt werden darf. In der Praxis scheint dieses
Phänomen zu einem Kompromiss zwischen Analytikern und Krankenkassen
zu führen, wonach vor allem niedrigfrequente psychoanalytisch
orientierte Psychotherapien bewilligt werden, die letztendlich
zeitlich kaum limitiert werden. Ein Phänomen, das, wie Hartung
bemerkt, verständlicher Weise dazu führt, dass viele
Psychoanalytiker auf ein hochfrequentes Setting verzichten und
damit eine wichtige psychoanalytische Behandlungsform immer mehr
aufgeben.
Im letzten Kapitel setzt sich Hinze mit dem Phänomen auseinander,
dass aus den Psychotherapie-Richtlinien der Begriff »Psychoanalyse«
gestrichen wurde und mit dem schwammigeren Begriff der
»analytischen Psychotherapie« ersetzt wurde. Letzteres scheint
zunehmend von der klassischen Psychoanalyse losgelöst zu werden,
die als Negativbeispiel für endlose hochfrequente Analysen bestehen
bleibt. Am Schluss dieses Kapitels kommen endlich konkretere
Forderungen: Es braucht mehr psychoanalytische Studien über die
Wirksamkeit der Methode und einen öffentlichen Diskurs über
psychoanalytische Verfahren, um der Skepsis der Krankenkassen und
der Richtlinienvertreter zu begegnen.
Das Werk der drei Autoren ist sehr lesenswert, umso mehr, als das
Thema in der aktuellen Diskussion um das schweizerische
Anordnungsprinzip sehr viel Brisanz hat, auch wenn es hier um die
deutsche berufspolitische Situation mit Fokus auf die Psychoanalyse
geht. Die Phänomene, die dort beschrieben sind, beschränken sich ja
nicht nur auf diese Therapierichtung, sondern sind wohl auch vielen
anderen Psychotherapieschulen bekannt. Auch kann es hilfreich sein,
hier Trends abzulesen, die auch in der Schweiz bemerkbar sind bzw.
noch kommen könnten.
Das Buch ist sehr gut lesbar und übersichtlich, verliert sich nicht
zu stark in psychoanalytischem Fachjargon, sodass es auch von
Nicht-Analytikern gut gelesen werden kann.
Teilweise wirken die Resümees etwas resigniert, wie es sich immer
wieder in der psychoanalytischen Literatur finden lässt. Dann
fürchtet man wieder einen beleidigten Rückzug in den Elfenbeinturm,
aber gerade das Schlusswort von Eike Hinze lässt hoffen, dass ein
konstruktiverer Weg angestrebt wird.
Veronica Baud
Leiterin Psychotherapie
Spital Affoltern am Albis
BAUD, Veronica. Wie viel Richtlinie verträgt die Psychoanalyse?.
àjour! Psychotherapie-Berufsentwicklung, [S.l.], n. 4, p. 37-38,
dez. 2016. Verfügbar unter:
<http://www.psychotherapie-wissenschaft.info/index.php/psy-ber/article/view/1223/1526>.
Date accessed: 30 jan. 2017.
www.psychotherapie-wissenschaft.info